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Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde. Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein... Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen.

(Genesis 12; 1-3)

Liebe Mitglieder und Freunde von Church and Peace,

Die Adventszeit, das Warten auf die Ankunft des Messias, führt uns tief in das Geheimnis der Heilgeschichte hinein. Das Kind aus Bethlehem, der Mensch, der in Galiläa heranwächst und wirkt, der nach Jerusalem hinauf geht, der Menschensohn am Kreuz, der, lebendig, die Seinen in Galiläa wiedertrifft und sie aussendet in alle Welt, ist er nicht derjenige, in dem sich die Verheißung verwirklicht, das einst Abraham gegeben wurde: “Durch dich werden alle Familien der Erde gesegnet werden“?

In dieser Vision der Geschichte wird die Menschheit nicht aufgeteilt in Gut und Böse, da gehört die Zukunft nicht denen, die ihren Willen und ihre Interessen mit allen Mitteln aufzwingen. Da geht es nicht darum, eine Weltordnung zu errichten, wo die Stärkeren das Sagen haben, und dafür einen erbarmungslosen Kampf gegen ihre Gegner führen. Da entscheidet sich nicht alles in Abhängigkeit von den jeweiligen Bündnissen, die sich je nach Zweckmäßigkeit bilden und auflösen. Keine finsteren Machenschaften, kein Menschenmord, um die Ereignisse in die gewünschte Richtung zu lenken.

In dieser Vision der Geschichte kann ein feiner roter Faden wahrgenommen werden: es ist der Wille Gottes für die Menschheit, es ist der Segen. Gott hat alles gut geschaffen und ist immer noch darauf bedacht, die Menschheit zu retten und zu heilen, auch wenn sie hartnäckig meint, ohne Ihn Träume von Macht und Größe hegen zu können.

Der Ruf Abrahams ist ein zentraler Meilenstein entlang dieses roten Fadens: das Gute, das Gott für die Menschheit will, kommt zu ihr nicht verschwommen, nein, der Segen wird durch ein Volk, das die Botschaft trägt, übermittelt. Dieses Volk, Nachkomme Abrahams, wird die Zusagen erben, aber sie gehören nicht ausschließlich ihm: die Geschichte der Väter betont sowohl die Sonderstellung der Erben, denen das Land Kanaan versprochen wird, als auch die Tatsache, dass Abraham Vater nicht eines Volkes, sondern einer großen Zahl von Völkern sein wird.

Die Geschichten des Exodus, die Landnahme, dann die Einrichtung des Königtums und dessen Verfall, sie werfen einen kritischen Blick auf die Geschichte der Nachkommen des Urvaters. Da werden Zusagen wahr – ein Volk, entkommen der Sklaverei, anders als die anderen Völker, reich an Gottes Tora, siedelt im Land Kanaan. Da wird aber auch sichtbar, wie dieses Volk der Versuchung verfällt, wie die anderen Völker werden zu wollen. Der Aufstieg des Kapitalismus, eine Politik der Ränke und Bündnisse mit den Mächtigen, der geistliche Verfall, sie alle entfernen das Volk von seiner ursprünglichen Berufung. Einzig die Propheten bleiben als unermüdliche Kritiker des Status quo der Vision treu und werden nicht müde, sie zu verkünden. So wie Jona, der gegen seinen Willen Botschafter der Barmherzigkeit Gottes für die schlimmsten Feinde seines Volkes wird. So wie Jeremiah, der soweit geht zu behaupten, dass Gottes Volk, selbst ohne Land weiterhin seine Berufung erfüllen soll, der Gesellschaft, in der es lebt, Segen zu bringen.

Der rote Faden der Heilsgeschichte führt zu dem, der gekommen ist, und auf den wir warten. Jesus Christus verkörpert die Verwirklichung der Zusage, die Abraham gemacht wurde. Er erweitert den Horizont seiner Jünger, indem er zu denen geht, die von seinen Zeitgenossen ausgeschlossen wurden: zu den Sündern, den Samaritern, den Heiden. Er verwirft die Gesetze der Ausgrenzung. Er heilt die Tochter der Syrophönizierin. Er findet beim römischen Hauptmann mehr Glauben als bei den Söhnen Abrahams. Er verspricht der Frau aus Samaria Ströme lebendigen Wassers. Und obwohl er betont, dass “das Heil von den Juden kommt“, lehnt er den Gedanken ab, dass ein Land für “heiliger“ erklärt wird als ein anderes, denn die wahren “Anbeter Gottes beten im Geist und in der Wahrheit an“. So sprengt er ein ganzes System, dass auf Ausgrenzung gründete. So öffnet er die Schleusen des Segens für alle Völker.

Ein feiner roter Faden führt durch die Heilsgeschichte... Die Geschichte der letzten zwanzig Jahrhunderte, insbesondere der Menschen, die den Gott der Bibel für sich beanspruchen, ist zweideutig geblieben. Das sogenannte christliche Abendland hat einen traurigen Ruhm durch die von ihm begangenen Untaten erlangt: Sklaverei, Inquisition, Kreuzzüge, Kolonialismus, Holocaust, kapitalistischer Neokolonialismus... Der rote Faden ist dennoch nicht ganz abgerissen. Selbst wenn es in der Minderheit geblieben ist, ist das Zeugnis für ein frieden- und segenbringendes Evangelium dort lebendig und wirksam gewesen, wo es Tag für Tag gepredigt und gelebt wurde. Mehr denn je muss dieses Zeugnis heute gehört werden, auch wenn oder gerade weil die vorherrschende Ideologie versucht, die Welt in ihrer mörderischen Logik mitzureißen. Wir sind alle Söhne und Töchter Abrahams, wenn wir es wagen, heute durch unser gemeinschaftliches Engagement und unsere sichtbare Treue der Zusage gegenüber zu leben und zu sagen, dass Gottes Horizont die gesamte Menschheit im Blick hat, Er will sie segnen, nicht vernichten.

Der Gott allen Segens möge uns wachsam machen in dieser Zeit des Advents, wenn wir über den Sinn der Heilsgeschichte nachdenken. Von Abraham, dem Vater vieler Nationen eingeleitet, erreicht sie in Jesus Christus ihren Höhepunkt. Sie gibt uns Mittel an die Hand, die Geschichte zu deuten, die sich vor unseren Augen abspielt und uns ihr in Demut zu stellen: sein Geist möge aus uns Segensbringer machen.

 

Die zu Beginn dieses Briefes abgebildete Miniatur wurde der Zeitschrift des Zentrums für religiösen Dialog in Belgrad entnommen.