Kultur als Dienstleistung,
oder das schwarze Loch, das die Kunst verschlingt


        Ich sollte einige Worte zur Bewertung der zeitgenössischen Kunstszene sagen, dabei aber auch darauf eingehen, wie sehr sich die Kriterien, mit denen wir uns neuerlich der Kunst nähern, von denen vor etwa zehn oder zwanzig Jahren unterscheiden. Ich schicke voraus, daß Sie keinen Ereigniskalender mit einer Liste von Ausstellungen, Biennalen, museumspolitischen Begebenheiten oder mit den Daten des Kunstmarkts von mir hören werden. In meinem Bericht beschränke ich mich auf die Schilderung jenes großen Wandels, mit dem wir heute die Funktion der Kunst und die Lage der kulturellen Institutionen ganz allgemein betrachten. In der zweiten Hälfte meines Referats versuche ich dann, dies alles auf ein gesellschafliches Phänomen zurückzuführen, das ich schon als Titel über dieser Bestandaufnahme gesetzt habe,.

1.
        Man spricht seit den späten sechziger Jahren vom Ende der Avantgarde, seit den späten Siebzigern sogar vom Ende der Kunst allgemein und seit den jüngsten Jahren, ungefähr seit Mitte der Achtziger, vermutet man, daß wir auch zum Ende der Kunstgeschichte als solche angelangt sind, zumindest in dem Sinne, wie wir uns die Kunst und die Kunstgeschichte aus europäischer Sicht vorgestellt haben.
        Man spricht in diesem Zusammenhang auch davon, daß die Europäer mit der Ausarbeitung einer einheitlichen, universalen Kunstgeschichte womöglich schon auch früher sehr einseitig gedacht und nur sich selbst getäuscht hätten. (Diese Weltgeschichte der Kunst wäre diejenige, die wir aus den Fachbüchern kennen.) Eine sehr eurozentrische Auffassung über die Kunst ist dabei als Ergebnis herausgekommen – so die Kritik –, sie sei jedoch sachlich falsch und im Zeitalter der gleichberechtigter Völkergemeinschaften auch von unserem Geschichtsverständnis her überholt. Es gäbe also keine klare und linear erzählbare Kunstgeschichte mehr, höchstens man könnte darüber noch diskutieren, wie man mehrere paralelle Geschichten der Kunst konstruieren könnte. Auch die gegenwärtigen kunstähnlichen Phänomene sollte man nicht mehr nach einer festen Hierarchie betrachten. Auch sie sollten lieber nebeneinander gestellt präsentiert und erzählt werden als eine Ansammlung gleichberechtigter Dokumente einer Weltkunst.
        Dieser Vorschlag zwingt natürlich einschneidende Änderungen auf und die Welt sollte sicher nicht dieselbe bleiben, wie sie noch auch vor kurzem war, z. B. in den siebziger Jahren. Können wir aber diese Vorschläge akzeptieren? Nun, die Kritik an der herkömmlichen Kunstgeschichte – möge sie sich auch noch so schockierend anhören – beinhaltet vieles, was unbestreitbar offenkundig ist. Ich will noch darauf hinweisen, daß die Konzeption jener klassisch anmutenden Kunstgeschichte, die wir schon ganz selbstverständlich zur unseren kulturellen Erbe zählen, eigentlich verblüffend spät entstand. Sie ist weniger als zweihundert Jahre alt.
        Die jüngste Auffassung, das alles, was interessant ist – unabhängig von etwaigen Qualitätskriterien – Kunst sein kann und gegebenenfalls tatsächlich als Kunst wahrzunehmen ist, erinnert ein wenig an jene Gewohnheiten, die vor der Entstehung der modernen Kunstgeschichte und den professionellen Kunstinstitutionen üblich waren. Ich denke an die Zeit zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert, in der es noch keine Museen im heutigen Sinn gab. Es gab aber schon Sammler und Kunstliebhaber, die alles, was ihnen schön oder exotisch vorkam oder in ihrer Form und Farbe, bzw. von ihrer Herkunft her interessant erschien, in ihren Kuriositätskabinetten gesammelt haben. Der Begriff »Kunst« hatte damals noch keine festen Umrisse – genau so, wie er uns auch heute wieder sehr verschwommen vorkommt. Und ich gebe es zu, daß ich mit dem Gedanken spiele, daß womöglich auch die jetzige Kunstszene mehr Kuriositäten und Unterhaltungsobjekte hervorbringt als tatsächliche Kunstwerke – auch wenn unsere Museen für die zeitgenössische Kunst wesentlich mehr Platz in Anspruch nehmen und auch inhaltlich völlig anders aussehen als die ehemaligen Vitrinen mit derlei Kuriositätsgut.
        Kehren wir jedoch zu der kaum zweihundert Jahre alten Konstruktion der Universalgeschichte der Kunst zurück. Wenn man nach parallelen Phänomenen sucht, könnte man sich vielleicht auf den von Goethe geschaffenen Begriff der »Weltliteratur« berufen, der auch nicht sehr alt ist. Eine nach dem Muster dieser Weltliteratur vorgestellte universale »Weltkunst« als Sammelbecken der wichtigsten Werke und auch als Flußbett, in dem eine linear erzählbare Kunstgeschichte mit einer Selbstverständlichkeit dahinfließt, existierte vor dem 19. Jahrhundert noch sicher nicht. Der Löwenanteil der Ausarbeitung einer solchen Theorie über die Kunst und ihre Geschichte geht nach manchen Anfängen im Klassizismus und in der Romantik auf die »Wiener Schule« zurück, das heißt auf die Tätigkeit von Burckhardt, Wölfflin, Riegl oder Dvorak in den Jahren um 1900 herum.
        Kurz gefaßt: es handelt sich bei der Kunstgeschichte und dem universalen Begriff »Kunst« um einen vor kurzem entstandenen Begriff, der sich eigentlich nur in der Zeit der Modernen etabliert hat. Es wäre also beinahe selbstverständlich, wenn er mit dem Fall der Moderne wieder verschwinden würde.
        Trotzdem ist zu bedenken, ob wir die abstrakten Verallgemeinerungen, wie z. B. die berühmten »Grundbegriffe«, die wir mit dem Namen von Wölfflin in Verbindung bringen und mit denen wir die formale und teils auch die inhaltliche Struktur der Kunst bisher erklärt haben, die auch ein historisches Gerüst, eine mögliche Chronologie der Kunst immanent in sich tragen, jetzt tatsächlich wieder wegwerfen sollten. Es geht nämlich bei den bisher benutzten begriffe und Fachtermini nicht nur um eine Ideenwelt, die nach bestimmten historischen Stilgefühl gesteltet wwurde und daher schon »etwas staubig« sein dürfte, sondern – zumindest was die grundsätzlichen Begriffe betrifft – ganz allgemein um das analytische Denken angesichts des Phänomens »bildende Kunst«.
        Hinter dieser Fragestellung steht das Problem: Glauben wir, daß wir die Kunst mit der Anwendung des analytischen Denkens und der Logik besser verstanden haben und eventuell auch in der Zukunft besser verstehen können – oder nicht? Es besteht nämlich auch die Möglichkeit, daß wir auf eine eigenständige Kunstwissenschaft verzichten und auch die Existenz der Kunst in ihrer bisherigen Form und Deutung leugnen, nur um den Weg frei zu machen, um mit einer ganz andersartigen Logik oder Disziplin das erklären zu können, was wir so lange (und vielleicht irrtümlich?...) für Kunst gehalten haben. Oder wollen wir das doch nicht?
2.
        Man kann an das Ende der Kunst bzw. der Kunstgeschichte glauben oder auch nicht, es ist offensichtlich, daß sich die gängigen Kriterien zur Beurteilung der zeitgenössischen Kunstszene nicht mehr aus den klassischen Normen einer einheitlichen Kunstgeschichte ableiten lassen.
        Die jüngsten internationalen Symposien aber auch die in den Tageszeitungen und Fachzeitschriften erschienenen Artikel, sowie einige neu erschienene Handbücher oder Sammelbänder behandeln Kunst zunehmend als Produkte von bisher in der Kunstgeschichte wenig beachteten geographischen oder soziologischen Gruppierungen. Sie sind vergleichbar mit immer kleiner werdenden und stets in weitere, noch kleinere Teile zerfallenden Inseln auf der bunten Weltkarte der heutigen Kultur.
        Die Kunst existiert in der jüngsten Fachliteratur fast nur als Werk von solchen Diasporen oder Minderheiten. Edward Lucie-Smith, ein bekannter Autor der amerikanischen Kunstszene, in seinem 1995 erschienenen mächtigen Album, das den Titel »Art Today« hat, widmet neben der Pop Art, der Minimal Art, der konzeptuellen Kunst, dem Neo-Dada oder den neo-expressionistischen Bestrebungen einige weitere Kapitel nicht nur der lateinamerikanischen Kunst oder dem Fernen-Osten ganz pauschal, sondern auch der Perestroika Art, den radikalen Minderheiten und der feministischen Kunst. David Hockney erfuhr die Ehre, in diesem Buch die homosexulle Kunst vertreten zu dürfen und zwar in einem Kapitel, das Gay Art heißt.
        Wenn man auch andere Publikationen aufschlägt, kann man auf die Kunst der Ausländer stoßen aber gelegentlich auch auf die Kunst der Behinderten und es gibt dann auch noch die Kunst des »Ostens« und neuerlich sehr stark des »Südens«, was natürlich sofort die Assoziation hervorruft, es ginge dabei vielleicht um die Kunst der ehemaligen Kolonien, und tatsächlich hören wir, daß von einer »nach-kolonialistischen Kunst« (selbst auf Europa bezogen) gesprochen wird, und wenn wir schon so weit gegangen sind, sollten wir ruhig erwähnen, daß auch die Gegenüberstellung der Kunst des »Zentrums« und der »Peripherien« ein Lieblingsthema der Diskussionen ist. Man strengt sich sichtlich an, den Peripherien unter die Arme zu greifen und ihnen eine eigenständige Kunstwelt mit abgesonderten Qualitätskriterien zu schenken. Und es gibt noch viele weitere Art von Kunst, die alle eine-eine Inseln für sich sind.
        In unserer alles nivellierenden Mega-Gesellschaft könnte diese in Mikrostrukturen aufgelöste neuartige Kunstszene auf den ersten Blick vielleicht als eine wohltätig wirkende Erfindung erscheinen, die hilft, die Vielfalt der Kultur zu bewahren. Auffällig ist jedoch, daß man weitgehend aufgehört hat, bei dieser Inflation der kunstschaffenden Bevölkerungsgruppen mit vergleichbaren und konsequenten Wertvorstellungen zu operieren.
        Diese in kleine Einheiten zersplitterten kunstähnlichen Tätigkeiten gelten nämlich untereinander als völlig unvergleichbar und autonom – selbst dann, wenn sie nicht mehr allein erscheinen, sondern im Scharen in die großen internationalen Ausstellungen oder Biennales einziehen. Sie bleiben auch dort voneinander isolierte Inseln, die unter solche Bewertungskriterien fallen, die ausschließlich nur für sie ausgedacht und nur auf sie anzuwenden sind. Sie haben ihre Qualität sozusagen einfach aufgrund ihrer Existenz und nicht von irgendeiner immanenten und auch den Vergleich ermöglichen Wertskale.
        Die ganze Auflösung der ehemaligen Kultur auf ihre kleinsten Fragmente und Splitter geschieht mit Parolen, die eigentlich nicht aus der Kunst oder der Kultur selbst stammen und auch nicht in irgendeiner Analyse des kulturellen Wandels wurzeln, sondern viel mehr aus dem Bereich des gesellschaftlichen Zusammenlebens und aus den Gesinnungsströmungen der gegenwärtigen Politik kommen. Ich denke an solche viel gebrauchte Worte wie Pluralität oder Regionalismus.
        Gegen sie ist natürlich nichts einzuwenden, sie gehören sozusagen zu den Grundbegriffen unseres demokratischen Selbstverständnisses. Ich habe nur meine Bedenken angesichts ihres Mißbrauchs. Ich bin überzeugt, daß man diese Begriffe nur entfremdet und ihres eigentlichen Sinnes beraubt, wenn man sie nicht im ihrem engeren politischen Bereich beläßt, sondern versucht, sie auf ethnologische, gesellschaftspsychologische oder kunsttheoretische Phänomene aufzudrängen, als wäre es z. B. wünschenswert, die Nationalhymnen in einer anderen Tonleiter für die Männer als für die Frauen zu spielen. Oder wenn es eine große menschliche Bereicherung wäre, wenn die Postangestellten auf Ultramarinblau sensibilisiert wären – nur weil Ultramarin die Komplementärfarbe der sogenannten »Postgelb« ist und daher sehr geeignet, die gesellschaftlichen Vorurteile gegenüber der Berufgruppe »Postangestellten« abzubauen oder auszugleichen. Man könnte aus all diesen Einfällen Kunst machen und wir sind tatsächlich sehr nahe daran, solche Formen der Kunst, die sicher viel Solidarität und Beistand ausdrücken, die aber mit der Kunst nur wenig gemeinsames haben, anzuerkennen.
        
3.
        Man hört heutezutage auch davon, ob es nicht gut täte, wenn wir die Kunst mit den Methoden der Ethnologie behandeln würden. Diese Fragestellung geht ganz logisch aus der jetzt geschilderten Inflation der kunstähnlichen Tätigkeiten der Splittergruppen hervor. Weil es nicht viel Erfolg verspricht, sie nach bestimmten Qualitätsnormen untereinander zu vergleichen, bleibt nicht anders übrig, als sie wie Dokumente einer gegenwärtigen »Volkskunst« zu betrachten – und dem folgend sie, ethnologischen Objekten ähnlich, zu sammeln, zu klassifizieren und auszustellen. Schließlich war die Kunst über Jahrtausenden hindurch immer nur eine Ansammlung von solchen spontan entstandenen gegenständlichen Objekten, die man heute genauso gut der Ethnologie zuordnen könnte.
        Was würde es uns ausmachen – könnte man sagen – wenn wir die Zeugen der überlieferten Kultur und auch die Objekte der gegenwärtigen Kreativität tatsächlich nur als Äußerungen einer ästhetisch sensibilisierten Lebensform oder als Requisiten irgendeines volkstümlichen Brauches betrachten würden? Harald Szeemann hat den Weg zu einer solchen Kunstauffassung mit seinen Ausstellungen (wie die »Junggesellenmaschinen« oder »Der Hang zum Gesamtkunstwerk«) schon gezeigt und Hans Belting hat überzeugende Argumente dafür gebracht, daß in einer Zeit, in der sich die europäische Kunst im Meer der überlieferten Kultur der anderen Kontinenten auflöst und auch ihre eigene Produkte immer mehr nur als eine Art von angewandter Videotechnik oder Mikroelektronik zu bezeichnen sind, besser wäre, wenn wir uns von dem Bild des genialen Künstler endgültig verabschiedeten und in unserem kreativen Zeitgenossen (seien sie Maler, Installationskünstler oder Filmregisseure) nur mit Herz und Seele herumbastelnde Anwender der gegenwärtigen materiellen Kultur sehen würden. Dies alles ergebe dann das interessante Forschungsfeld einer neuen Ethnologie.
        Dies ginge eigentlich ganz gut, so lange man sich auf skurille Ausnahmefällen oder schon von ihrer Themenwahl her atemberaubende Ausstellungsobjekte beschränkte, wie es auch Harald Szeemann getan hat. Die von ihm gesammelten Exponaten wirkten tatsächlich sehr überzeugend und oft deshalb so extrem, weil sie sowieso von Kunst oder vom hochstilisierten, »verkünsteten« Leben überladen waren. Was Szeemann ausstellte, das waren also keine durchschnittliche Reliquien einer Zeit (z. B. der Jugendstil oder der Gründerzeit), sondern viel mehr Zeugen eines damals allgemeingültigen Lebensstils, einer Weltanschauung.
        Und an diesem Wort, Weltanschauung, knüpfe ich meinen nächsten Zweifel.
        Es gibt nämlich ein Problem bei der Ethnographie und es ist im Endeffekt dasselbe, das auch die Kunst hat: – echte ethnographische Objekte (wie auch echte Kunstobjekte) haben immer eine Ausstrahlung, die nur mit der Totalität und Ganzheit jener Weltanschauung zu erklären ist, die die Geburt dieser Dinge – und ihre formale Disziplin, ihren handfesten Stil – überhaupt ermöglichte. Ethnologie und Kunst gehen Hand in Hand, wenn es sich um diese Ganzheit der Weltanschauung handelt, jedes Objekt ist nämlich der Zeuge oder das Konzentrat einer in solchem Sinn abgeschlossenen und runden Welt. Ihre Überzeugungskraft lebt von dieser Geschlossenheit und Ausschließlichkeit.
        Damit ist wohl auch das zu erklären, warum die wahre Folklore und gute Kunstwerke in ihrem innersten Wesen so sehr intolerant sind, wenn sie auf eine von ihnen abweichende Kultur stoßen. Sie müssen sozusagen voreingenommen sein infolge ihrer monolit gestalteten Weltanschauung und ihres Stilverständnisses. Wenn sie doch gezwungen sind, eine Mischkultur zu akzeptieren, was heißt, gleichzeitig mehreren Welten zu dienen, entstehen dann diese schönen Objekte in der Regel überhaupt nicht mehr. Deshalb hat Hegel die Kunst und ihre Verwandtschaft zu den Schätzen der alten, mythischen Zeiten zugeordnet.
        Das klingt in unseren pluralistisch geschulten und demokratisch gesinnten Ohren natürlich sehr archaisch und befremdend, aber vielleicht stoßen wir gerade hier auf eine von jenen plausiblen Erklärungen, warum in unserer sehr vielseitigen und mit allen möglichen Kulturgütern hantierenden Zeit doch keine glaubwürdigen ethnologischen Produkte mehr entstehen und warum auch die echte Kunst im Begriff ist, langsam auszusterben. Es scheint, daß die Pluralität und die Regionalität, ferner das enge Nebeneinanderleben der Bevölkerungsgruppen, sowie der ständige Austausch der Gedanken und Kulturgüter zwischen ihnen – was wir insgesamt sehr positiv finden – die Kunst nur daran hindert, ihre runde, in sich abgeschlossene Welt zu finden. Und dies alles hindert natürlich auch die Objekte der Ethnologie daran, als solche überhaupt zu entstehen.
        Der Vorschlag, wir sollten uns zu der zeitgenössischen Kunstproduktion mit der Methode (und eventuell auch mit den Wertvorstellungen) der Ethnologie nähern, deshalb ist nicht ausreichend. Die Ethnologie hat keinen größeren Spielraum oder lockerere Toleranzgrenzen als die Kunst im herkömmlichen Sinn.

4.
        Die Ausstellungsbesucher wurden in den letzten Jahren zunehmend mit einer Form der Kunst konfrontiert, die eigentlich nur als die Kehrseite ihres Kunstverständnis gelten dürfte – mit der »Kunst der Diktaturen« nämlich. Dies war auch der Titel einer Wanderausstellung, die vor zwei Jahren aus Wien auf die Reise ging und Schlagzeile machte. Man hat aber den Eindruck, daß das aufflammende Interesse nach der Kunstproduktion der totalitären Systeme nicht nur mit dem fünfzigjährigen Jubiläum der Beendung der zweiten Weltkrieg und mit dem Jahrestag des Falls des Nationalsozialismus zu erklären ist, sondern auch damit in Zusammenhang steht, daß die Kunst der Diktaturen eine rigorose Weltanschauung vertritt und dank ihrer festen Stilvorschriften und monotonen Inhalt vor dem Betrachter so erscheinen kann, wie ein stramm regulierter und leicht lesbarer Unterhaltungsstoff.
        Möge die öde Schau der Hitler- und Stalinkunst noch so unfreundlich, platt oder brisant wirken, diese Bilder haben offenbar ihren Reiz auf das zeitgenössische Publikum. In den Jahren der postmodernen Unübersichtlichkeit und mit dem Herabsinken des Stilgefühls bis zu der positiven Aufnahme eines weltweit praktizierten banalen Pseudoakademismus sind die Hemmnisse angesichts solcher Trivialitäten längst abgebaut worden und man kann diese Werke mit einer Gelassenheit und sogar mit aufrichtiger Neugier anschauen. Ich will hier auf die Frage nicht weiter eingehen, wofür dies alles gut ist oder welche Gefahren diese Kunst eventuell noch immer mit sich bringt. Worauf ich hinaus wollte, ist eine andere Fragestellung und diese lautet: wäre die Kunstwissenschaft nicht doch in der Lage, mit der »Wiederentdeckung« der Kunst der Diktaturen zu einer einheitlichen Bewertung der inneren Struktur der Kunst im 20. Jahrhundert zu kommen?
        Hier ein Vorschlag, wie es zu handhaben wäre.
        Man ginge von dem aus, was man zurückblickend auf den Ablauf der modernen Kunst-ismen schon sowieso aufgedeckt hat, nämlich von der Tatsache, daß mit dem fortschreitenden Reduktionismus, d. h. mit dem Weglassen der Sujet, der gegenständlichen Welt und all der narrativen Elementen, ferner mit dem Eliminieren jeglicher sensualer Charms und materiellen Reizes, also im Endeffekt mit dem Ausschließen der sichtbaren Welt aus der Kunst, die modernen Kunstrichtungen immer spekulativer geworden sind und am Ende eine theoretische Fragestellung nach sich selbst, nach ihrem Wesen dargestellt haben – mit einem Wort: die Kunst wurde Philosophie.
        Einige haben die fortgeschrittene Phase einer solchen Entwicklung schon bei dem Kubismus entdeckt, andere erst bei dem Abstraktionismus, wieder andere schon bei Duchamps früh entstandenen Reade Mades, während eine breitere Schicht der Experten wie erst nur in der konzeptuellen Kunst entdeckt hat. Ich erwähne schließlich noch Arthur Danto, nach dessen Meinung die Kunst erst bei der Appropriation der achtziger Jahre endgültig eine philosophische Fragestellung nach sich selbst wurde.
        Diese Geschichte der fortschreitenden Reduktion auf das theoretische Skelett der Kunst ist gleichzeitig die Geschichte einer wachsenden Intoleranz dem gegenüber, was nicht wie das dürre Gerüst der ästhetischen Überlegungen aussieht. Viele würden schon allein mit dieser selbstmörderischen Entwicklung der Modernen erklären wollen, warum die Kunst im 20. Jahrhundert immer magerer geworden ist und jetzt vor unseren Augen jämmerlich zu Ende geht.
        Nun, ich gehe einem Schritt weiter und verwende einen Gedanken des französisch sprachigen kanadischen Kunstphilosophen Thierry de Duve. In Verbindung mit dem Lebenswerk von Duchamp und angesichts der Entwicklung der nonfigurativen Malerei über die Monochromen bis zu den tautologischen Werken eines Joseph Kosuths fand er heraus, daß eine der Haupttendenzen der Entwicklung der modernen Kunst das Auftauchen und die verstärkte Anwendung des sogenannten ästhetischen Urteils ist.
        Was ist das ästhetische Urteil? Es forscht nicht nach Stil- oder Qualitätsfragen (das tut nämlich das »künstlerische Urteil«), sondern sucht ganz im Sinne von Kant eine Antwort auf jene grundsätzliche Frage, ob dieses oder jenes Ding überhaupt Kunst ist. Wir können einvernehmlich behaupten, daß eine solche Frage (ob etwas überhaupt Kunst sein könnte) früher zwar in der Philosophie schon aufgetaucht ist, jedoch im alltäglichen Kunstleben z. B. in der Atelierarbeit der Künstler oder am Schreibtisch der Kunstkritiker, vor dem 20. Jahrhundert kaum vorstellbar gewesen wäre. Es scheint jedoch, daß im Laufe unseres Jahrhunderts diese Frage langsam so wichtig geworden ist, daß viele Kunstrichtungen – und gerade die progressivsten – fast ausschließlich dadurch ihre Qualität oder Daseinsberechtigung zu ergründen versuchten, daß sie eine Antwort auf die Frage »was ist Kunst« verkörperten. Und sie deklarierten die Existenz der Kunst auf einem so fadendünnen Grenzgebiet zwischen Kunst und Nichtkunst, daß diese Antwort wie eine These so hart und provokativ erschien.
        Weder de Duve noch einem anderen Kunsttheoretiker fiel jedoch ein, daß diese interessante und wohl auch zutreffende Beobachtung über die paradoxe Entwicklung der modernen Kunst auch einen Schlüssel in die Hand gibt, um endlich eine einheitliche Erklärung für die ganze Kunstszene des 20. Jahrhunderts zu finden – sozusagen eine gemeinsame Kuppel über die Köpfe der Polaritäten und Skismen. Man könnte damit die unversöhnbaren Gegensätze zwischen dem Modernismus und Akademismus, zwischen der Entfaltung der Avantgarde-Kunstrichtungen und der Diktaturen-Kunst aus einem größeren Abstand betrachten und nuancierter verstehen.
        Möglich wäre dies deshalb, weil es nicht zu leugnen ist, daß die Diktaturen in einigen Hinsichten dieselben Kriterien hatten wie die Avantgarde. Auch für sie war nämlich das ästhetische Urteil außerordentlich wichtig, nur von der Kehrseite her; sie wollten genau wissen, was Kunst ist, jedoch um zu wissen, was für sie gefährlich ist – und das nannten sie »entartete Kunst« oder Kunst der »Dekadenz«, des »Imperialismus«, usw., was ungefähr das selbe bedeutete wie Nichtkunst. Auch das war eine mögliche Anwendung des ästhetischen Urteils.
        Sie deklarierten immer mehr und mehr für Nichtkunst und sie taten es in einem so progressiven Eifer und so gründlich, daß am Ende unter ihren Füßen der Boden ganz verschwunden war. Man könnte sogar sagen, daß die Kunst der Diktaturen dazu neigte, mit dieser Auslese am Ende nur ein einziges Bild zu haben und alles anderes auf den Scheiterhaufen zu werfen. Dieses einziges Bild wäre dann sicher das Bildnis des jeweiligen großen Bruders gewesen – das war unter Stalin schon beinahe passiert, aber doch nicht ganz gelungen. So weit hat es keine Diktatur gebracht, die Geschichte hat diese Entwicklung immer schon früher abgebrochen als dieses schreckliche Zerrbild des Konzeptualismus hätte entstehen können.
        Es ist dann ganz offenbar, warum die asketische Kunst der Avantgarde trotz ihre Manie zum ständigen Reduktionismus doch ein menschlicher Trost blieb, eine Zuflucht für die Phantasie und eine hinreißende Utopie, die quasi wie eine errettende Säule vor den Zeitgenossen erschien, die der Mensch in der Not umarmen konnte – während die Kunst der Diktaturen nur ein Bedrängnis darstellte und eine Wüste für die Phantasie war oder wie eine Botschaft des Terrors wirkte. Ich will auf die Unterschiede hier nicht eingehen. Sicher ist, daß die Avantgarde und die Diktaturenkunst ihre zornige Intoleranz und den Reduktionismus im Dienste sehr verschiedener Zwecke eingesetzt haben.

5.
        Anstatt dieses interessante Thema weiter zu verfolgen möchte ich jetzt diese Beobachtungen lieber verallgemeinern und davon reden, daß das ästhetische Urteil nicht nur in der Kunst des 20. Jahrhunderts eine immer größere Rolle spielt, sondern auch das wahr zu sein scheint, daß auch unser alltäglicher Handel von einem ähnlich ausgeprägten ästhetischen Urteil geleitet wird.
        Hierzu gehört natürlich auch die Frage, »was ist Kunst«, aber nicht nur das, sondern auch all' das, was mit einer persönlicher Wahl zwischen den Dingen zu tun hat. Also auch die Frage ganz allgemein »was gefällt mir?« Kant hat solche Entscheidungen mit der menschlichen Urteilskraft in Verbindung gebracht, bei ihm ist also die Auswahl bei den alltäglichen Belangen und bei Sachen, die schon zur Kunst gehören könnten (»was ist schön?«) vereinheitlicht – und das mit der Betonung, daß die Wahl nach persönlichem Geschmack eine wichtige menschliche Angelegenheit ist, sehr nahe der Gesellschaftsphilosophie und Politik!
        Eine wichtige Abweichung von Kant ist jedoch, daß in unserem Jahrhundert die avantgardistische Kunst – aber auf ihre Art und Weise auch die Kunst der Diktaturen – die von Kant benutzten zwei Aspekten des Ästhetischen, die als das »Schöne« und das »Erhabene« bekannt sind, einfach zusammengelegt haben. Das Schöne ist dabei absolut zweitrangig geworden, man schwärmte eigentlich nur für das »Erhabene«. Warum? Weil sich die Avantgarde und die Diktaturen an ihrer sehr verschiedenen Weise doch um etwas ähnliches bemüht haben, sie wollten etwas Welterschütterndes schaffen.
        Wir erinnern uns noch; mit dem Ende der Modernen ging dann plötzlich und sehr zu Überraschung aller auch das Zeitalter des Totalitarismus zu Ende. Es entstand nach dem Verschwinden des überbetonten Erhabenen ein Vakuum. Man atmete auf und für diese Zeit schaffte man den Namen Post-moderne. So weit ist es berechtigt, daß wir uns jetzt, am Ende dieses anstrengenden Jahrhunderts, dadurch Erholung verschaffen, daß wir aus den beiden eben genannten Aspekten jetzt nur das Schöne beibehalten und das Erhabene fallen lassen. Es wird also jetzt alles sehr »schön« und sehr gefällig für uns – ohne die Last irgendeines erhabenen Pathos. Was natürlich auch bedeutet, daß uns nichts mehr so schrecklich wichtig wird.
        Bitte, entschuldigen Sie, wenn ich in der letzten Minuten ein wenig auf dem Gebiet der Philosophie verirrt habe. Es geht aber um eine einfache Sache und zwar: Die Frage »was ist Kunst?« bleibt auch ohne Erhabenheit weiterhin ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens, weil sie garantiert, daß wir tatsächlich unseren persönlichen Geschmack haben – und unser Geschmack ist deshalb so wichtig für uns, weil er ein Beweis für unsere Urteilskraft ganz allgemein ist. Wir behaupten uns also auch im praktischen Leben durch unseren Geschmack, durch die Anwendung von Ästhetik.
        Dies könnte man eine ästhetisch (über-) sensibilisierte Gesellschaft oder Weltordnung nennen. Natürlich, dies alles bringt mit sich, daß wir die ästhetischen Werte nicht so sehr in den Museen, sondern lieber unter den alltäglichen Sachen und bei den leichten Musen suchen; wir wollen das Leben genießen, wir wollen die Dinge gefällig haben, einfach alles schön... So gesehen klingt es vielleicht nicht übertrieben, wenn ich sage: Unser Recht auf persönlichen Geschmack ist schon fast ein politisches Grundrecht für uns. Zwischen einem derartigen oder einem solchartigen Ding wählen zu dürfen bedeutet, daß wir in der Tat autonome Menschen sind.
        Wenn wir dies vor Augen halten und so auf die Geschichte unseres Jahrhunderts zurückblicken, kommen wir zu dem folgenden Schluß: Offenbar war die Autonomie des Menschen im 20. Jahrhundert von Anfang an äußerst gefährdet und daher ist es zu verstehen, daß sowohl die echte Kunst als auch die Pseudokunst dieses Recht zur freien ästhetischen Wahl immer sehr ernst genommen haben – die Avantgarde hat es bis zum äußersten forciert, aber auch die Diktaturen erkannten die wichtige Rolle des ästhetischen Urteils und wollten es schon in seiner Keim ersticken. Heute, wo wir das ästhetische Urteil weder überstrapazieren, noch unterdrücken möchten, spielt die tägliche Wahl, mit der wir das Vorhandensein unseres persönlichen Geschmacks auf die Probe stellen, eine vielleicht noch größere Rolle als früher. Sie ist stellvertretend für die menschliche Urteilskraft ganz allgemein.
        So ist es zu verstehen, wenn in unserer Wohlstandsgesellschaft das Sichern der täglichen Wahl, was die ästhetischen Entscheidungen betrifft, schon eine Routine, noch mehr, eine Dienstleistung geworden ist. Es wird dafür gesorgt, daß unsere Umwelt jedem die freie und betont einem persönlichen Geschmack entsprechende Entscheidung unzähligemal pro Tag anbietet und sie uns mit dieser Ästhetisierung des Daseins zum Überdruß bringt. Viele empfinden das vielleicht nur einfach angenehm oder mit der Zeit zunehmend langweilig. Es scheint jedoch, daß sich diese ästhetische Übersensibilisierung der Umwelt auch andersartig auswirkt, sie ist nämlich jenes Phänomen, durch das die Kunst langsam zerstört wird. Diese ästhetische Dienstleistung der gegenwärtigen Gesellschaft wirkt wie ein schwarzes Loch: je mehr ästhetischer Wert da hineinfällt, um so größer wird ihre Anziehungskraft und um so mehr kulturelle und künstlerische Phänomene werden durch sie angezogen und verschlungen.
        Ich wiederhole: diese tödliche Spirale der Ästhetisierung kommt von gut gemeinten Vorsätzen, man wollte nur jedem einzelnen das Recht zur freien Entscheidung geben – um so ratloser sehen wir, wie daraus ein neuer Moloch wird. Diesem Widerspruch und der Ratlosigkeit einige Bemerkungen zu zufügen ist in meiner Bestandsaufnahme der letzter Punkt.

6.
        Ich möchte behaupten, daß der stets voranschreitende Reduktionismus, den wir aus der Geschichte der modernen Kunstrichtungen kennen, noch immer ein lebendiger Faktor unserer Kultur ist. Das Eliminieren von Fleisch und Blut und das Zurückführen dessen, was man sagen möchte, auf eine möglichst hart formulierte These, also diese ganze asketische Eskapade der Avantgarde, geht trotz dem Ende des Modernismus noch immer weiter. Es wirkt jetzt in anderen Bereichen des ästhetischen Urteils. Nachdem die Kunst nichts mehr anzubieten hat, was man noch weiter reduzieren könnte, hat der Reduktionismus angefangen, selbst die Theorie zu befallen.
        Der Zwang, alles, was mit der Kunst zu tun hat, möglichst noch präziser und schärfer zu handhaben, als es bisher geschehen ist, führt jetzt dazu, daß man auch die Thesen der Kunstgeschichte und der Kunsttheorie unter die Lupe nimmt, und man stellt fest, daß dabei das Objekt dieser Disziplin nicht mehr zu finden ist. Die Kunsttheorie und die Kunstgeschichte werden so im Nu leere Fiktionen und sie fallen zusammen wie ein ausgestochener Luftballon. Sie verlieren ihr Inhalt und werden – ganz nach dem Muster der monochromen Bilder der späten Avantgarde – thesenhafte Behauptungen dessen, daß außer den bloßen Rahmen von einer solchen Disziplin nichts mehr aufzuzeigen ist. Ich bin tatsächlich der Meinung, daß Beltings Buch über das Ende der Kunstgeschichte oder Dantos Aufsätze über das Problem, daß die Erzählung der Kunst in unserer Zeit zu ihrem Abschlußkapitel gekommen ist, die interessantesten konzeptuellen Werke seit den Texttafeln von Joseph Kosuth sind. Sie sind konsequent und überzeugend, sie sind außerdem in einem solchem Maß nonkonformist, daß sie damit wie eine wohltuende Insel in unserer schrecklich pragmatischen postmodernen Welt wirken. Und sie sind nicht zu letzt auch sehr unterhaltsame Lektüre, wirklich ein Muß für jeden, der mit intellektuellen Ansprüchen ein Buch in die Hände nimmt.
        Ich würde auch nicht sagen, daß sie mit diesen negativen Prognosen eventuell die Wahrheit verfehlt hätten. Viel spricht dafür, daß wir tatsächlich keine Kunst mehr im alten Sinne haben. Es scheint, daß diese Publikationen – sehr ähnlich, wie es durch die von Clement Greenberg forcierten Reduktionen im Fall der Minimal Art passiert ist – im Bereich der Theorie eine notwendige Minimalisierung eingeführt haben. Es mußte ausgesprochen werden, daß die Kunst von heute keine Funktion der ästhetischen Aussagen im engeren Sinn hat. Sie ist ein Symbol der menschlichen Urteilskraft ganz allgemein geworden, eine Garantie, eine Sicherheitsvorkehrung der Demokratie, ein täglich serviertes Angebot unserer Gesellschaft – eine Dienstleitung.
        Kunst als tägliches Brot, als Service, als Dienstleistung? Was haben wir damit gewonnen – oder verloren? Nun, wenn die Kunst das Symbol der persönlichen Autonomie wird oder eine Garantie der Gleichberechtigung, bedeutete dies, daß jedermann an der Kunst teil haben sollte (was, spätestens seit den Sprüchen von Joseph Beuys, tatsächlich eine sehr gängige Auffassung ist). Im weiteren bedeutete es, daß auch jeder beliebige Gegenstand oder jedes Geschehnis ein Anlaß sein könnte, zu versuchen, das Vorhandensein seines persönlichen Geschmacks zu bestätigen und zu sagen: – für mich ist dies hier die Kunst (was, wie wir wissen, seit Andy Warhol eine sehr verbreitete Praxis ist). Dies alles führt natürlich zu einer uferlosen Inflation der Künstler und der Kunst.
        Wir müssen jetzt tatsächlich mit all' möglichen Folgen einer solchen Situation rechnen und es ist gar nicht mehr verwunderlich, daß man dabei so weit gekommen ist, daß man nicht nur jedem einzelnen Menschen dieses Demonstrationsrecht einer Geschmacksprobe zuschreibt, sondern ganze Gruppen, Berufstände oder Diasporen bekommen ihr gutes Recht, ihre ästhetische Urteilskraft unter Beweis zu stellen und dabei – fast als Nebenprodukt – auch eine eigene Art von Kunst in die Welt zu setzen.
        Es ist klar, daß diese Art von Kunst nicht mehr nach den Kriterien der herkömmlichen Ästhetik zu beurteilen wäre. Ferner wäre das auch keine faire Behandlung, wenn wir darauf bestünden, daß diese Kunstproduktionen untereinander anhand irgendwelcher Qualitätsnormen verglichen und gemessen würden – diese Kunst hat ganz andere Funktionen als die Kunst im bisherigen Sinn, aber wäre auch nicht als Objekt der Ethnologie auf dem richtigen Platz. Sie ist viel mehr mit soziologischen oder politwissenschaftlichen Methoden wahrzunehmen und zu erforschen. Und eventuell nach moralischen Vorbehalten könnten wir uns ihr nähern – es kann nämlich vorkommen, daß die tägliche Bestätigung der ästhetischen Urteilskraft, wenn es flächendeckend zugeht, nur in leere Routine hinausläuft oder Manipulationen zum Opfer fällt. Was zur Zeit – denke ich – auch geschieht.
        Nur das ist festzuhalten, daß die Kunstszene von heute nicht mehr jene Probleme anbietet, wie wir es noch in den Jahrzehnten der Neoavantgarde gehabt haben – damals ging nämlich der große Wettlauf darum, welche von den nacheinander aufgetauchten Kunst-ismen überleben würden, oder wer der stärkste war, wer der neue Picasso würde. Wir stellen heute fest, daß niemand Picasso geworden ist und von den etwa 50 Kunst-ismen, die z. B. in einem 1978 erschienen DuMont-Band (Karin Thomas: »Bis heute: Stilgeschichte der bildenden Kunst im 20. Jahrhundert«) aufgezählt waren, die meisten wieder spurlos verschwunden worden sind.
        Parallel zu der Inflation der kleinen, niedlichen Kunst-ismen und der unaufhaltsamen Ästhetisierung der Umwelt und der Tagesgeschäfte ging jene Kunst, die man noch gerne zu wahrnehmen vermochte und die man auch für längere Zeit in Erinnerung behielt, rapide zurück. Kein Wunder, wenn man bedenkt, daß es bei den meisten Kunstproduktionen nur darum ging, eine kurzfristige Selbstbestätigung zu finden oder die Dienste einer institutionalisierten Leistung in Anspruch zu nehmen, damit alle – auch diejenigen, die selbst im künstlerischen oder ästhetischen Bereich zu nichts taugen – zu ihren täglichen Zuckerbrot kommen.
        Nur die Kunsthistoriker verlieren ihr Brot. Die Kunst als Dienstleistung ist so durchsichtig und gibt uns mit einer solch' transparenten Nichtigkeit um, wie das nur der Luft eigen ist.