Rekursive Fraktale, generierte Rosetten und »Mandalas«
Ein Ausflug in das Reich des schwachen Chaos

        Dieser Bericht stammt von einem Kunsthistoriker, der ab und zu auch als Künstler tätig ist. Ich schreibe nämlich Bücher und Fachartikel über die moderne Kunst (die übrigens in der ersten Linie nur in der für den deutschen Leser sehr fremden ungarischen Sprache publiziert werden) und habe auch eine Vergangenheit als Maler und Grafiker hinter mir. Es scheint mir deshalb wichtig, diesen Umstand klarzustellen, weil diese Zeilen eventuell den Eindruck erwecken können, daß es hier um eine mathematische oder geometrische Abhandlung geht. Ich betrachte mich jedoch nicht einmal als Hobbymathematiker, dazu ist nämlich das in diesem Gadenkengang eingesetzte mathematische Instrumentarium viel zu dürstig.
        Es geht einfach darum, daß ich, wie viele anderen in den letzten Jahren, von der visuellen Schönheit der Fraktalgeometrie fasziniert war und mich auch von den überaus interessanten erkenntnistheoretischen Problemen der Chaosdynamik berührt fühlte. Da ich immer danach strebte, mich mit den anstehenden Problemen möglichst aktiv, in einer experimentellen Weise auseinanderzusetzen, blieb ich kein passiver Konsument der auf dem Computerbildschirm entstehenden Fraktalbilder, sondern versuchte ich, auch eigene Fraktale auszudenken und das kombinative Reichtum der Möglichkeiten auf die Probe zu stellen.
        Die elementarsten Fraktale, die man durch ein rekursives Verfahren erzeugen kann (diese sind die sogenannten fraktale Kurven, zu denen auch die bekannte Koch-Kurve gehört), sind heutzutage am häufigsten unter dem Titel »Lindenmayer-Systeme« (kurz: L-Systeme) in den Büchern und Computerprogrammen zu finden. Dieses Kapitel steht sozusagen am Anfang der Bekanntschaftsmachung mit der Fraktalgeometrie, unter anderem auch deshalb, weil die in diesem Bereich aufgenommenen Objekte mit dem relativ einfachen Turtle-Verfahren zu generieren sind. Jeder, der sich schon mit einem Fraktalgenerator-Programm auf seinem Computer versucht hat, kennt diese L-System Fraktale, die mit ihrer eifrig laufenden graziösen Linienzeichnung und mit dem dadurch entstandenen verblöffenden grafischen Resultat sicher ihren Reiz haben, die jedoch nicht die dynamisch-farbige Schönheit und schwindelerrägende Komplexität aufweisen können, die jener Fraktalen eigen ist, die in dem Bereich der voll entwickelten Chaosdynamik gehören (wie auch die Julia- und Mandelbrot-Menge).
        »Unecht« sind die L-System Fraktale natürlich deshalb noch längst nicht, nur es scheint, daß nicht viel interessantes mehr bei dem L-System dem neugierigen Amateur nach dem Ausprobieren der Peano-Linie, des Sierpienski-Dreiecks, der Koch-Kurven und Koch-Inseln (auch Schneeflocken-Kurven genannt) oder jener Baum- und Strauchformen, die Lindenmayers eigentliches Forschungsgebiet darstellen, übrig bleibt. Ferner, man könnte auch den Eindruck haben, daß diese Fraktale womöglich auch für die moderne Mathematik keine vielversprechenden Forschungsaufgaben darstellen. Dieser Eindruck kann natürlich eine Täuschund sein. Nimt man jedoch die sehr viele Bücher an der Reihe in die Hand, die man heute unter der Überschrift »Fraktale und Chaosdynamik« auf den Regalen findet, fällt es bald auf, wie wenig Platz den rekursiven Fraktalen in der Fachliteratur gewiedmet ist. Selbst das sehr populäre Fractint-Programm, dessen neuere Versionen eine rasch wachsende Ansammlung von aus der Fachliteratur geliehenen Fraktal-Typen enthalten, entwickelte sich gerade im Bereich des L-Systems am wenigstens spektakulär und nahm – mangels neuerer Errungenschaften – nur einige attraktive Parketten-Muster, wie die Penrose-Tilings in seine jüngere Versionen auf.
        Ich blieb aber treu zu dem L-System, zumal ich mich nicht auf dem engeren Gebiet der klassischen Fraktale beschränkte, sondern ich das Fractint-Programm dazu benutzte, ganz frei und unbekümmert neue Kodes auszudenken, um mal auch dem Zufall die Bahn zu ebnen. Nach der Betrachtung der so entstandenen grafischen Gestalten gab es immer einen Weg, die Kodes wieder zu verändern und so auuch die Bilder weiterzuentwickeln. (Wenn man die <fractint.l> File mit einem Editor öffnet und die sich dort anreihenden L-System Kodes sieht, findet man leicht die Regel der für das Fractint spezifischer Schreibweise der L-System Kodes heraus und man kann danach die neuen Formeln entweder sofort dorthin einschreiben oder eine ganz neue File – mit ».l« Erweiterung – für die selbsterfundenen Kodes öffnen.)
        Schnell fand ich heraus, wie schwer es ist, wirklich neue fraktale Kurven zu erzeugen, die selbstmeidend sind (d. h., es kommt zu keiner Berührung oder Überschneidung bei denen, auch nicht bei der höheren Iterationsstufen). Was machen jedoch die Überschneidungen aus, wenn die Kurve sonst eine interessante Gestalt aufweist, fragte ich mich. Das war natürlich schon der Kunsthistoriker, der sich mehr für die visuellen Überraschungen als für die »Reinheit« der mathematischen Wesen interessierte. Ich produzierte also eine Reihe von iterierten Grafiken, die nach dem Verfahren der rekursiven Fraktale generiert worden waren, sonst aber die verschiedensten Eigenschaften hatten und ich ordnete sie nach Gruppen wie echte Fraktale, Kachel- oder Parketten-Muster, ornamenthafte Forme, Rosetten, usw.
        Ich mußte mich natürlich damit abfinden, daß die meisten grafischen Gestalten nur sehr bedingt der Welt der Fraktale gehörten und es einige unter ihnen gab, die nicht im weitesten Sinne Fraktale sein konnten, zumal sie nach einigen Schritten auch dem Iterationsverfahren stock widerstanden. Sie erwiesen sich als um einen zentralen Punkt rotierenden und sich immer neu überschreibenden Rosettenforme, die wegen dieser problematischen Kreisbewegung und der daraus resultierenden Gefangenschaft auch nicht weiter wachsen konnten – eigentlich ein Betriebsumfall, wenn man gerade fraktalen Forme erzeugen wollte. Betrachtete man sie nur als (semi-?) herkömmliche Rosetten, fand man sie dann doch ganz hübsch und annehmbar.
        Mir ist natürlich nicht eingefallen, diese zentralsymmetrischen Gestalten mit den aus dem Fernost stammenden kultischen Gebilden, die Mandalas heißen, in Verbindung zu bringen, so lange ich nicht die Einladung von Wilfried Nold bekam, Mandala-ähnliche Forme zu einer Wanderausstellung einzusenden. Dann aber wurde mir klar, daß diese auf dem Computer generierten Grafiken für eine solche Ausstellung sehr gut geeignet sein sollten. Ich stellte eine kleine Sammlung von ihnen zusammen und ergänzte sie noch mit einigen Parkettenformen und anderen rekursiv generierten Gestalten, die alle einen für die Mandalas typischen zentralsymmetrischen Aufbau hatten und schickte sie auf diese Veranstaltung ein. Man möge sie interpretieren, wie man wolle. Freilich wurden sie auf meinem Computer in Sinne einer ähnlich unbegrenzten Freiheit geboren.
        Damit wäre die Geschichte meines Beitrags zu der Mailart-Aktion Mandala erzählt. Ich würde die Gesagten hier nur noch mit einigen Überlegungen ergänzen, die schon mehr mit der mathematischen Seite dieser Grafiken zu tun haben.
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        Die auch in der Überschrift aufgenomene Bezeichnung »schwaches Chaos« ist keineswegs ein gängiger Terminus. Ich entnahm das Wort, weil es mir gefiel, aus dem Titel des ersten Bandes einer Publikationsreihe des Cambridge University Press, die den nonlinearen Wissenschften gewiedmet war (Zaslavsky und andere: Weak Chaos and Quasi-Regular Patterns). Allerdings gings es in diesem Buch um ziemlich kompliziert entstandene Forme, die z. B. mit der Hamilton Dynamik, d. h. mit Wellenbewegung, Resonanz, usw. zu tun hatten. Vieles von den dargestellten Bilder hätte man jedoch auch durch des Turtle-Verfahren verwirklichen können, was natürlich kein Argument dafür liefert, die Komplexitätsgrade des Materials herunterzuspielen. Wenn ich also den Ausdruck »Schwaches Chaos« hier für jene Objekte entleihe, die auch innerhalb der instrumentalen Möglichkeiten des L-Systems zu realisieren sind, dann bin ich zumindest ungenau – man sollte viel mehr von »sehr schwachem Chaos« reden. Aber, wie gesagt, der Terminus ist noch für kein Gebiet fest zugeschrieben.
        Was ist an diesen rekursiven Fraktalen (und fraktalähnliche Objekten) so »schwach chaotisch«? Das Turtle-Verfahren ist eine Iterationsmethode, die auf einer Zeichenreihe basiert, die die Anordnung einiger geraden Strecken symbolisiert, wobei diese Zeichenreihe gleich als eine Kette von Anweisungen zu verstehen ist.
        Am besten ist es durch ein Beispiel zu verstehen. Die Koch-Kurve wird z. B. so generiert, daß man als Anfang (Axiom oder Initiator genannt) eine gerade Strecke nimmt, man nennt sie »F«, dann teilt man diese Strecke auf drei kleinere Strecken von gleichen Länge und ersätzt man die mittlere durch zwei Geraden, die wie die beiden Seitenlinien eines regulären Dreiecks auf dem leeren Platz dieser mittlere Strecke sitzen. Wenn man das Ergebnis mit den vereinbarten Zeichensymbolen darstellt (die Strecken sind weiterhin »F« und die Richtungsänderungen werden mit »+« und » - « bezeichnet), bekommt man die Formel: F+F-F-F. Eine solche Formel wird Generator genannt, weil man sie in den weiteren so benutzt, als wäre jede »F« in ihr wiederum eine weitere Initiator, den man erneut mit der ganzen Formel, mit dem Generator erstzen muß. Wiederholt man das Verfahren unendlich, bekommt man eine unendlich dicht gebrochene Zick-Zack-Linie, eben die Koch-Kurve, die sich – wenn man sie messen könnte – wegen der unendlich vielen F-Strecken, aus denen sie besteht, auch unendlich lang erweisen würde.
        Nun: Nach der Chaostheorie verstehen wir unter chaotischen Verhältnissen solche Zustände, in denen es während der Iterationen durch die wiederholt auftretenden Periodenverdopplungen und Bifurkationsvergabelungen zu Turbulenzen kommt (Was diese sind, entnehme man aus der Fachliteratur). Ähnliches passiert jedoch bei der Koch-Kurve oder bei einem Verwandten von ihr ganz sicher nie – soll diese Kurve aus noch so komplizierter und langer F-Kette aufgebaut sein! Man kann dies auch so ausdrücken, daß rekursive Fraktale, die zum L-System gehören, kein chaotisches Regime besitzen. Selbst solche, die nicht mehr selbstmeidend sind, sondern sich unendlich oft berühren und überschneiden (stellen wir uns eine unendlich lange und sich unendlich verwickelte Zwirne vor), bilden noch immer einen einzigen Faden, mit dem kein anderer Faden konkurriert. Wogegen die Fraktale mit einem chaotischen Regime zu einem (bildlich gesagt:) Filzmeer hinlaufen, wo unendlich viele konkurrente Fäden die Orientieirung schwer machen. Zwar ist auch ein solches Fraktal noch immer determiniert (von jedem Punkt läuft die Iteration durch eine eindeutig bestimmte Bahn, die wiederholbar ist), führt jedoch schon die kleinste Ungenauigkeit der Anfangsbedingungen zu einem völlig andersartigen Ergebnis, die Rechnung »rutscht aus« – es kann eine Bahn mit ständigen Verwechselungen der vorhandenen Faden sein. Das macht die Vorhersehbarkeit jener Prozesse, die durch ein chaotisches Regime gehen, praktisch unmöglich.
        Und wie steht es mit der Vorhersehbarkeit bei den L-System Fraktalen? Wenn ein Generator aus nur acht »F« Strecken besteht, auch dann ergibt schon die achte Iteration insgesamt 262 144 »F«-Strecken und die siebte 2 097 152! Und diese »F«-Strecken reihen sich normaleweise nicht entlang einer Gerade oder einer gut erkennbaren regelmäßigen Form, sondern sie folgen jene Anweisungen, die durch die auf ähnlicher Weise vermehrten, abertausenden »+« und » - « Zeichen entstanden. Es kommt zu einer unübersehbar komplizierten Menge von Kurven oder Schleifen, deren ganue Lage und Zusammenwirkung höchstens nur im Prinzip vorhersehbar ist. Zwar mit etwas Rutine und anhand der Selbstähnlichkeit (die nicht immer vorhanden ist!) ist es möglich, einzuschätzen, wie das Fraktalbild nach der nächsten Iteration aussehen wird – praktisch kann doch kein Mensch genau wissen, wie aus diesen unzähligen »F«-Strecken entstandenes Gesamtsbild in seinen Einzelheiten verhalten wird (Man kann z. B. die künftige Lage einer »markierten« F-Strecke nicht auf Anhieb voraussagen). Es sei denn, daß es bei der Iteration zu jenem »Betriebsunfall« kommt, den ich oben schon beschrieben habe, d. h. die Reihe der Iterationen schon sehr früh abbricht und das Gebilde anfängt, um einen zentralen Punkt zu rotieren. Dann haben wir es nämlich mit einem verhältnismäßig gut übersehbaren Objekt zu tun, das allerdings einen Extremfall darstellt, mit dem sich die Mathematiker bisher anscheinend kaum beschäftigt haben.
        Eine solche Rosette ist nämlich mathematisch trivial, sie besagt nichts – sie ist genauso trivial, wie eine »nicht gelungene« Fraktal-Kode, die nur einen formlosen Wergmeer, eine Filzmasse auf dem Bildschirm erzeugt. Besonders im Bereich der elementaren Fraktalen, so auch bei den L-System-Gebilden ist es üblich, nur ein optimal geordnetes Ergebnis zu akzeptieren. Weder die Rosetten, noch die mißgelungenen Abfallprodukte des