V. Szabó László: Der unheimlichste aller Gäste und seine Erscheinungsformen
Ideen zur Geschichte des Nihilismus
Der Nihilismus steht vor der Tür, dieser unheimlichste aller Gäste.
(Friedrich Nietzsche)
Die Problematik des Nihilismus ist zumindest zwei hundert Jahre alt1 und hat ihre Aktualität auch heute nicht verloren. Unsere postmoderne Zeit als nihilistisch zu bezeichnen wäre allerdings nicht ungewöhnlich, denn seit Rudolf Pannwitz (bereits 1917!) gilt das Attribut "nihilistisch" für den postmodernen Menschen als plausibel wenn nicht evident:
Der sportlich gestählte, nationalistisch bewusste, militärisch erzogene, religiös erregte postmoderne Mensch ist ein überkrustetes Weichtier, ein juste-millieu von décadent und barbar, davon geschwommen aus dem gebärischen Strudel der großen Décadence, derkf radikalen Revolution des europäischen Nihilismus.
2Die Berechtigung der Frage nach dem europäischen Nihilismus ergibt sich heute daraus, dass sie trotz zahlreicher diverser Versuche bis dato nicht gelöst wurde. Die Wellen der "großen Décadence" sind noch nicht ausgeloschen, man leidet noch an ihnen, wenn man nicht resignieren oder darüber zynisch hinwegsehen will. Aber eben ein Zyniker wie auch Friedrich Nietzsche war es, der von der welterschütternden Frage "Wozu?" am stärksten betroffen wurde: Aus ihm, diesem größten Wirbel der europäischen Geistesgeschichte sind die ungeheuersten geistigen Wellen ausgegangen, verstärkt durch Leiden und Leidenschaft, die durch Epochen und Generationen, durch Rudolf Pannwitz oder Hermann Hesse, durch Stefan George oder Gottfried Benn bis zu uns reichen, "denn wir leiden am Menschen, es ist kein Zweifel."3 Haben wir aber genug gelitten? Nietzsche, der "Antichrist" war, wie er selbst betont, derjenige, der am Menschen am meisten gelitten hat. Wie der symbolische Nietzsche-Held, Zarathustra aufruft: "Ihr leidet mir noch nicht genug! Denn ihr leidet an euch, ihr littet noch nicht am Menschen. Ihr würdet lügen, wenn ihr's anders sagtet! Ihr leidet alle nicht, woran ich litt."1 Die Diagnose des Nihilismus wurde damit von Nietzsche aufgestellt, der den Zusammenbruch eines ganzen Wert- und Sinnhorizontes europäischer Kultur konstatieren musste um seinen Blick nach neuen Horizonten menschlicher Existenz zu richten.
Wenn etwa Hans Küng das Nietzsche-Kapitel seines im Geiste des Zweiten Vatikaner Konzils geschriebenen Buches »Die Heraufkunft des Nihilismus: Friedrich Nietzsche« betitelt hat,1 so heißt das nicht wortwörtlich, dass der Nihilismus erst mit Nietzsche heraufgekommen oder eben verschwunden sei. Der Ausdruck stammt nämlich aus einer Prophezeiung Nietzsches für das 20. und 21. Jahrhundert, die zunächst in seiner, von der Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche willkürlich Der Wille zur Macht genannten Nachlassschrift 1901 erschien:
Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die Heraufkunft des Nihilismus. Diese Geschichte kann jetzt schon erzählt werden: denn die Notwendigkeit selbst ist hier am Werke. Diese Zukunft redet schon in hundert Zeichen, dieses Schicksal kündigt überall sich an; für diese Musik der Zukunft sind alle Ohren bereits gespitzt. unsere ganze europäische Kultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: wie ein Strom, der ans Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen.1
Was Nietzsche "erzählte", entsprang somit einer geschichtlichen Notwendigkeit, und er nahm die seherische Aufgabe auf sich, die Zeichen des Nihilismus zu entziffern. Er setzte sich und der ganzen Menschheit das Ziel, den Nihilismus zu überwinden. Woher kam aber "dieser unheimlichste aller Gäste"?
1 Sicher, er ist bei zahlreichen Denkern und Künstlern unseres Jahrhunderts vorzufinden, aber sein Ursprung reicht zumindest bis ins 18. Jahrhundert zurück und wurzelt in einer Periode der Geschichte, wo die Menschheit, in Kants Formulierung, aus seiner "Unmündigkeit" hervorgetreten ist, und Gott nicht mehr als ein über jedem Zweifel stehendes, letztes metaphysisches Prinzip betrachtete. Damit tat sich aber, wenn auch nicht beim Namen genannt, die große Kluft des europäischen Nihilismus auf, d.h. bevor er eigentlich in Russland eines Turgenjew oder Dostojewski die unheimliche Gestalt sinnloser menschlicher Existenz annahm. Im deutschen Idealismus war mithin bereits dessen Kehrseite, neben dem monumentalen Werk der reinen Vernunft auch schon deren Negation vorhanden. Der ungeheure Prozess der Nichtswerdung Gottes1 nahm seinen Anfang, die Tage des absoluten Geistes waren gazählt, kaum dass er sich selbst bewusst wurde. Die deutschen Idealisten von Kant bis Hegel, diese Erben Platons aber auch des Christentums - dem der Platonismus auch innewohnt, Nietzsche übersah das nicht - machten noch den Versuch, die Vernunft und den Geist an die Stelle Gottes zu setzen und damit Gott selbst zu retten. Was aber entstand, war eine kalte Lebensfremde, die all jene erschreckte, die noch glauben wollten. Die Sackgasse menschlichen Vernunftsdenkens wurde für viele unerträglich, für Kleist war es der lezte Impuls der Verzweiflung an der Unmöglichkeit menschlichen Erkennens, Novalis flüchtete zur Liebe der "heiligen Nacht", und Hölderlins Hyperion erblickte auch er verzweifelt das Nichts hinter der "schreienden Wahrheit" der Welt: "Aber ich überwältige sie nicht, die schreiende Wahrheit. Habe ich mich nicht zwiefach überzeugt? Wenn ich hinsehe ins Leben, was ist das Letzte von allem? Nichts. Wenn ich aufsteige im Geiste, was ist das Höchste von allem? Nichts." Was Hölderlin und Novalis gegen das Nichts, das Nichtsein (nullitas) anboten, war ihre Liebe und Kunst, ihre Stimme wurde aber erst später von Nietzsche und seinen Nachfolgern gehört. Der Schatten, die Chimäre des Nihilismus, die von Jacobi wohl am deutlichsten erkannt wurde, sollte eine immer größere Gestalt annehmen, bevor Nietzsche den Kampf mit ihm antrat. "Wahrlich, [...] es soll mich nicht verdrießen, wenn Sie oder wer es sei, Chimärismus nennen wollen, was ich dem Idealismus, den ich Nihilismus schelte, entgegensetze" - schrieb Jacobi an Fichte im Jahre 1799,1 den Weg einer nicht mehr zu stillenden Diskussion über Nihilismus, Atheismus und Idealismus eröffnend. Es war nun der Sinn der Welt und des Lebens selbst im Spiel, ob man es tragisch empfand wie Hölderlin, oder darüber ironisch hinweglächelte wie Jean Paul, ob man weiterhin Gott zu erkennen glaubte wie Novalis, oder eine Phantasiewelt aufzubauen bestrebt war wie E. T. A. Hoffmann, der Nihilismus schwebte nunmehr über dem Geist der Zeit. Aber die größte Phantasmagorie, das scheußlichst lachende Gespenst wurde die Wirklichkeit selbst: "Ein nichtiges Gespenst. - Mir schaudert... Siehe! Es geht umher und lacht - und lacht!" - schreit Jacobi auf.1 Dieses Lachen des Nihilismus wird Tiecks William Lovell, dieser "erste Nihilist in der deutschen Literatur"1 nicht weniger vernehmen, als Jean Pauls Siebenkäs. Dem Nihilismus in der deutschen Literatur wurde damit der Weg geebnet, der durch Büchner in das 20. Jahrhundert führen sollte. Monumentale Versuche zu seiner Überwindung in der Art eines Hermann Broch im Tod des Vergil wurden noch unternommen, aber der Kampf ist bis heute noch nicht entschieden.1
Dass der Nihilismus seit der Aufklärung ein Problem wurde, darin sind viele denkende Köpfe einig; immerhin es war Martin Heidegger, der es gezeigt hat, dass der Nihilismus das ganze abendländsiche metaphysische Denken seit Parmenides durchzieht. Aus diesem Blickwinkel ist dann Nietzsche der Gipfelpunkt des Phänomens des Nihilismus.
2
R. Pannwitz: Die Krisis der europäischen Kultur. Nürnberg 1947 (2. Aufl.), S. 52. Zu Pannwitz und seiner Nietzsche-Rezeption siehe noch meine Studie in Pro Philosophia Füzetek, Veszprém, 1999/17-18, S. 121-136.
3
Nietzsche: Zur Genealogie der Moral I, 11. (im Weiteren "GM") Bei den einzelnen Büchern Nietzsches verweise ich auf die betreffende Absatznummer. Bei den Zitaten aus dem Nachlass wird der betreffende Band der Kritischen Studienausgabe von Nietzsches Werken, Berlin-New York 1980 (abgekürzt mit KSA) angegeben.
1
Nietzsche: Also sprach Zarathustra IV, 6.
1
Hans Küng: Existiert Gott? Antwort auf die Gottesfrage der Neuzeit. München 1978, S. 383.
1
KSA 13, 189.
1
KSA 12, 125.
1
So lesen wir in einem Nachlassfragment Nietzsches von Winter 1884-85: "Der Gott, den sie einst aus Nichts geschaffen - was Wunder! er ist ihnen nun zu Nichts geworden." (KSA 11, 403)
1
Zit. nach Bruno Hillebrand: Ästhetik des Nihilismus. Von der Romantik zum Modernismus. Stuttgart 1991, S. 11.
1
Ebd., S. 12.
1
Ebd., S. 18.
1
Hermann Hesse: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Frankfurt am Main 1987. Band 12, S. 159f.
1
Vgl. H. J. Gawoll: Nihilismus und Metaphysik. Etwicklungsgeschichtliche Untersuchung vom deutschen Idealismus bis zu Heidegger. Stuttgart-Bad Cannstatt 1989, S. 72.
1
Im ganzen Kontext heißt es: "[...] Jener Berliner Rache-Apostel Eugen Dühring, der der im heutigen Deutschland den unanständigsten und widerlichsten Gebrauch vom moralischen Bumbum macht: Dühring, das erste Moral-Großmaul, das es jetzt gibt, selbst noch unter seinesgleichen, den Antisemiten." (GM III, 14)
1
KSA 12, 350.
1
So heißt es etwa in Die fröhliche Wissenschaft (FW) III, 112: "Ursache und Wirkung: eine solche Zweiheit gibt es wahrscheinlich nie - in Wahrheit steht ein Kontinuum vor uns, von dem wir ein paar Stücke isolieren; so wie wir eine Bewegung immer nur als isolierte Punkte wahrnehmen, alo eigentlich nicht sehen, sondern erschließen."
1
GM III, 25.
1
GM III, 23.
1
GM III, 14.
1
GM III, 24.
1
GM, Vorrede 7.
1
GM I, 1.
1
FW V, 344.
1
Ebd.
1
Die Physik schätzt Nietzsche nur in übertragenem Sinne als Schöpfen: "die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden" müssen die Schöpfer ihrer selbst werden. So ist der Aufruf "Hoch lebe die Physik!" zu verstehen. (FW IV, 335)
1
Joseph Ernest Renan (1823-1892), der Autor von Das Leben Jesu ist einer von denen, die Nietzsche in seinen Schriften häufig angreift. Im Antichrist bringt er ihn als Beispiel für die "Einfalt christlicher Theologen", die "die Fortentwicklung des Gottesbegriffes vom Gotte Israels" dekretieren (Nietzsche: Der Antichrist, 17).
1
GM I, Anmerkung.
1
Nietzsche: Die Geburt der Tragödie (GT), Vorrede.
1
GT, 15.
1
GT, 5.
1
GM I, 11.
1
Vgl. etwa GM II, 24 und III, 14.
1
Jenseits von Gut und Böse VI, 208.
1
GM III, 24.
1
Es gab ja auch zur Zeit faschistischer Kritik solche, die sich von der Ideologie nicht verblenden ließen: Trotz der unmittelbaren Erfahrung des Faschismus und des Zweiten Weltkrieges nannte z.B. Rudolf Pannwitz 1951 den Begriff "Wille zur Macht" einen der Grundpfeiler von Nietzsches Philosophie. Vgl. R. Pannwitz: »Nietzsche und die Gegenwart«. IN: Pannwitz: Der Nihilismus und die werdende Welt. Nürnberg 1951, S. 289.
1
Den krassen Unterschied zwischen Werden und Sein, als Formen zweier inkomensurablen Weltanschauungen, hat wohl Oswald Spengler in seinem Untergang des Abendlandes am deutlichsten nachgewiesen.
1
Eine eindeutige, von jeder ideologischen Färbung gereinigte Definition des Befgriffes "Übermensch" finden wir bei Martin Heidegger (Vorlesung aus dem Jahre 1953): "Bei dem Wort 'Übermensch' müssen wir allerdings zum voraus alle falschen und verwirrrenden Töne fernhalten, die für das gewöhnliche Meinen anklingen. Mit dem Namen 'Übermensch' benennt Nietzsche gerade nicht einen bloß überdimensionalen bisherigen Menschen. Er meint auch nicht eine Menschenart, die das Humane wegwirft und die nackte Willkür zum Gesetz und eine titanische Raserei zur Regel macht. Der Übermensch ist vielmehr, das Wort ganz wörtlich genommen, derjenige Mensch, der über den bisherigen Menschen hinausgeht, einzig um den bisherigen Menschen allererst in sein noch ausstehendes Wesen zu bringen und ihn darin fest zu stellen." Vgl. M. Heidegger: »Wer ist Nietzsches Zarathustra?« IN: A. Guzzoni: (Hrsg.): 100 Jahre philosophische Nietzsche-Rezeption. Frankfurt am Main 1991, S. 75 f.
1
FW III, 125.
1
FW V, 346.
1
KSA 13, 189 f., 215.
1
KSA 13, 46. Siehe dazu noch L. Landgrebe: »Zur Überwindung des europäischen Nihilismus«. IN: D. Arendt (Hrsg.): Der Nihilismus als Phänomen der Geistesgeschichte in der wissenschaftlichen Diskussion unseres Jahrhunderts. Darmstadt 1974, S. 26 f.
1
KSA 13, 190.
1
KSA 12, 131.
1
KSA 12, 476.
1
KSA 12, 216.
1
KSA 12, 351.
1
KSA 13, 215. Dass aber die Selbstüberwindung des europäischen Nihilismus nicht nur für den europäischen Kulturkreis von Belang ist, bezeugt etwa der Japaner Nishitani Keiji mit seinem The Self-Oversoming of Nihilism. Transl. by Graham Parks. New York 1990.
1
KSA 12, 571.
1
KSA 12, 213. Dazu: Küng, a.a.O., S. 435.
1
Siehe dazu: Elisabeth Kuhn: Friedrich Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus. Berlin 1992, S. 9.
1
Andere Nihilismus-Attribute der späteren Nietzsche-Kritik ergeben sich aus den verschiedenen Deutungen. So tarnt etwa der "negative Nihilismus" den Willen zur Macht als dessen eine Qualität als "Willen zum Nichts", während der "reaktive Nihilismus" die Nichtigkeit oberster Werte verkündet und jede Art Willen verneint. (Deleuze: Nietzsche et la philosophie) Der letztere mündet immerhin in "passiven Nihilismus", welche Bezeichnung bei Nietzsche expressis verbis vorhanden ist.
1
KSA 12, 350.
1
Also sprach Zarathustra III, »Von den alten und neuen Tafeln«, § 1.
1
So hieß es in der Akademierede Benns: "Aber wir kommen die Frage nicht herum, was erleben wir denn in diesen Räuschen, was erhebt sich denn in dieser schöpferischen Lust, was gestaltet sich in ihrer Stunde, was erblickt sie, auf welche Shinx blickt denn ihr erweitertes Gesicht? Und die Antwort kann nicht anders lauten, sie erblickt auch hier am Grunde nur Strömendes hin und her, eine Ambivalenz zwischen Bilden und Entformen, Stundengötter, die auflösen und Gestalten, sie erblickt etwas Blindes, die Natur, erblickt das Nichts." Zit. nach: Andreas Wolf: Ausdruckswelt. Eine Studie über Nihilismus und Kunst bei Benn und Nietzsche. Hildesheim-Zürich-New York 1988, S. 135.
1
Hillebrand, a.a.O., S. 4.
1
"Wir müssen Dostojewski lesen", schreibt Hermann Hesse, "wenn wir elend sind, wenn wir bis zur Grenze unserer Leidensfähigkeit gelitten haben und das ganze Leben als eine einzige brennende, glühende Wunde empfinden, wenn wir Verzweiflung atmen und Tode der Hoffnungslosigkeit gestorben sind." IN: Hermann Hesse, a.a.O., S. 305.
1
GM II, 24.
1
GM II, 25.
1
Für die Nietzsche-Rezeption in Deutschland nach 1890 siehe Steven E. Aschheim: The Nietzsche Legacy in Germany 1890-1990. Berkeley-Los Angeles 1992 und Richard Frank Krummel: Nietzsche und der deutsche Geist. Bde I und II. Berlin/New York 19982.
1
Vgl. H. Rausching: »Masken und Metamorphosen des Nihilismus«. IN: D. Arendt, a.a.O., S. 99-125.
1
FW III, 196.
1
Vgl. Kuhn, a.a.O., S. 8.
1
FW III, 124.
1
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