Endre Kiss
Kritizistischer Positivismus und Nation
(Über Alfred Fouillées Soziologie der Nation)
Bis heute ist es wohl Alfred Fouillées 1898 erschienene monographische Arbeit über die Problematik der Nation und dadurch auch des modernen Nationalismus überhaupt, die den qualifizierenden Anforderungen der modernen Wissenschaftlichkeit, ja, des einwandfreien Szientismus im höchsten Ausmass entspricht.
Hier vermischen sich jedoch relevante Aspekte und Überlegungen mehrfach miteinander. Entscheidende holistische Aspekte der Vergangenheit und der Gegenwart kommen auf, die Perspektiven der beiden Jahrhundertwenden werden aktualisiert, die sich mit der expliziten Erforschung gesellschaftlicher Makrodimensionen befassenden Wissenschaften (vor allem selbstverständlich die Soziologie, aber nicht nur sie) werden herangezogen. Das Problemfeld Nation, die als eine der bestimmendsten Realitäten, aber auch Ideen des neunzehnten Jahrhunderts in vielem die Eigenschaften einer gesellschaftlichen Grossgruppe aufwies, während seine normalwissenschaftliche Einweisung ins Gebiet der Soziologie als zweifellos problematisches Unternehmen erscheinen dürfte. Die politische Brisanz (unter jedem Aspekt und in jeder historischen Periode) vermischt sich auf eine nicht mehr von dem politischen Perspektivismus zu trennende Weise mit durchaus relevanten, sogar auch subtilen wissenschaftslogischen Fragen. Der Diskurs über die Nation im wissenschaftlichen Zeitalter war von Anfang an von dieser Dualität bestimmt. Der Diskurs einer wissenschaftlichen Sprache vermischt sich unaufhörlich mit den verschiedensten politischen Sprachansätzen.1
Auf eine einmalige Weise wird die Bedeutung von Fouillées Versuch einer Psychologie der französischen Nation (die ja ohne grössere Schwierigkeiten zu einer Psychologie der Nation erweitert werden könnte) dadurch erhöht, dass Fouillée einer der ausgezeichnetsten französischen Sozialwissenschaftler ist, die eine wahre Pionierarbeit in der Ausarbeitung der Methodik und der Methodologie der Sozialwissenschaften geleistet haben. Diese Wissenschaftler, wie beispielsweise Durkheim, Guyot, Tarde, standen an der unter dem Aspekt der Wissenschaftslogik allergünstigsten Stelle der Wissenschaftsentwicklung2. Sie waren (in Frankreich) die führenden Repräsentanten der Sozialwissenschaften, denen es gegeben war, eine kürzlich vollzogene wahre wissenschaftliche Revolution als (von ihrem Zeitalter tatsächlich als solche anerkannte) wirkliche Pioniere, als Gründergestalten in ihren eigenen Wissenschaften einzuführen, bzw. zur Geltung zu bringen. Diese theoretische Diskussion, durch welche die neue (einheits)wissenschaftliche Vision des kritizistischen Positivismus von ihren philosophischen Ausgangspunkten in die einzelnen Wissenschaften hineingedrungen ist (und in vielen Fällen in diesem Zuge der Dynamik gleich neue Wissenschaften gründete), ist wohl die bedeutendste Methodendiskussion aller Zeiten gewesen.3
Dass Alfréd Fouillée diesen einmaligen wissenschaftlichen Augenblick für die methodische Begründung gerade einer vollkommen bewussten und den Erwartungen der progressivsten Wissenschaftlichkeit voll entsprechenden Rekonstruktion der Nation in Anspruch nahm, erhöht nur die Bedeutung seines Unternehmens.
Der Positivismus im Rahmen der oben geschilderten wissenschaftlichen Revolution wurde zunächst zum kritizistischen Positivismus (was so viel heisst, dass er in seine Prinzipien die des philosophischen Kritizismus aufgenommen hatte) und dann bei vielen Vertretern dieser Richtung ist aus diesem kritizistischen Positivismus ein perspektivistischer-kritizistischer Positivismus geworden (wofür gleich auch Alfred Fouillée einige schöne Beispiele liefert).4 Uns scheint, der oben schematisierte Weg der Wissenschaft in nuce die wesentlichsten Tendenzen auch der von Alfred Fouillée in Anspruch genommenen Wissenschaftslogik wiedergeben kann.5
Es ist gleich ein Moment des philosophisch-szientivischen Perspektivismus, der nicht nur Fouillées Auffassung der Gesellschaft im allgemeinen auszeichnet, sondern auch in seiner Konstitution des Gegenstandes Nation eine bestimmende - und im Gegensatz zu den üblichen Anschauungsweisen der Soziologie - spezifische Rolle spielt. Indem nämlich Fouillée die sogenannten Ideenkräfte (idée-force) in den Mittelpunkt seiner soziologischen Anschauung stellt, findet er damit gleich ein heuristisches Element, welches einen spezifischen Zug der Nation als Gruppe gegenüber anderen (auch von der Soziologie eher als eigenen Gegenstand angesehenen) Gruppen darstellt. Während eine auf die übliche Weise soziologisch kategorisierte Gruppe als neutraler und nicht in ihren Ideenkräften anvisierter Gegenstand erscheint, dürfte eine Definition der Nation ohne dieses Element ab ovo nicht korrekt sein, da die Nation ein Gegenstand ist, der gleichzeitig für seine Konstitution und Reproduktion gerade Ideenkräfte mobilisiert. Ohne diesen inhärenten Perspektivismus der szientivischen Anschauungsweise wäre es also Fouillée überhaupt nicht möglich gewesen, seine Interpretation der Nation auf die Elemente der idée-forces zu bauen,d.h. diese sachlich-gegenständliche Entscheidung wäre es ihm aus methodologischen Gründen nicht zu verwirklichen gewesen. Dass jedoch eine Konstruktion der Nation auf einen Perspektivismus aufgebaut wird, welcher alle Einzelne mit einbegrifft, sichert dieser Konstruktion erhebliche Vorteile gegenüber anderen Konstruktionen. Denke man nur daran, dass mangels dieser Lösungsmöglichkeit notgedrungen eine einzige Perspektive diese Rekonstruktion beherrschen würde, was allein schon zu Verzerrungen der Rekonstruktion führen würde, deren politische und andere Wirkungen kaum im voraus exakt auszukalkulieren wären6.
An dieser Stelle wären zwei prinzipielle Bemerkungen zu machen. Erstens wäre die These über die Ideenkräfte bei weitem nicht mit jenen neueren, vor allem nach 1945 und - wie es kaum anders vorzustellen ist - auf den unvorstellbar starken und komplexen intellektuellen und theoretischen Druck des nationalsozialistischen Phänomens entstandenen Erklärungsmodellen identisch, die Nation als simple Kommunikationsgemeinschaft zu beschreiben und zu definieren. Es ist durchaus vorstellbar, dass in gewissen Kontexten die mobilisierenden Ideenkräfte und die nationalgemeinschaftlich praktizierte Kommunikation zusammenfallen, weder inhaltich, noch methodisch wäre aber diese Erklärung als Identität akzeptierbar. Zweitens erfolgt bei Fouillée ein explizit kritizistisch-positivistischer Erklärungsversuch, welcher auch auf eine legitime Weise soziologisch arbeiten will und es auch tatsächlich tut. Denn die ethnischen Voraussetzungen erscheinen als realkausale Erklerungen eben als Folgen, wenn nicht eben Konsequenzen der physischen Aktion des Milieus, wodurch die soziologische Kohärenz zwischen der Thematisierung der Nation und anderen Thematisierungen voll hergestellt ist. Zum intellektuellen und politischen Umfeld von Fouillées Interpretation der Nation gehört in diesem Zusammenhang auch noch die klare und prophetische Einsicht, dass die ethnische (oder in seiner Terminologie: rassische oder darwinistische, aber auch zoologische) Auffassung der Nation nicht nur eine Anomie sondern auch einen Rückfall für die europäische Zivilisation und Geschichte bedeutet. Diese Einsicht führt freilich in zahlreichen relevanten weiteren analytischen Richtungen weiter, an dieser Stelle sei jedoch vor allem ihre umwertend-kritische Dimension hervorgehoben, da es weitgehend als allgemein geteilte Auffassung gilt, dass Nation von Anfang an, stets und problemlos ethnische Dimensionen artikuliert7.
Ebenfalls kurz sei an dieser Stelle auch noch an die allgemein bekannte Tatsache hingewiesen, dass im Interesse dieser frühen, kaum noch paradigmatisch zu nennenden Soziologie die Problematik des sozialen Handelns stand, was sich auch in dieser Thematisierung der Nation klar sichtbar wird. Die Nation gilt unter diesem Aspekt deshalb so schwer zu definieren, weil sie die im eigentlichen Sinne des Wortes keine Institution und deshalb ein nur virtuelles Subjekt ist (dessen Handeln ja im Mittelpunkt der zeitgenössischen Soziologie stehen sollte). Es heisst auch so viel, dass die Merkmale eines statischen, strukturierten Bezugsrahmens die Nation nie - wie eben der Staat oder andere wirkliche Institutionen - konstitutieren könnten. Dass diese heuristische Fixierung der Nation auf zwar virtuell hypostasierte, nichtsdestoweniger aber politisch machterfüllte und statische Subjekte nicht nur einen gefährlichen, sondern auch zum Totalitären neigenden Charakter dem nationalen Diskurs verlieh, versteht sich von selber. Dass aber Fouillée ein ganzes Arsenal von Argumenten ausarbeitet, das gegen eine solche Heuristik in jeder Dimension gerichtet ist, gilt als eine Tatsache, die für unser Interesse von ausgezeichnetem Wert sein sollte8.
Die Nation, als Nation, obwohl sie es nicht ist, versteht sich des öfteren aber genau als eine latente, virtuelle Institution, die gelegentlich aktuell realisiert wird. Das Problem der virtuellen Institutionalisierung der Nation ist aber eines, in welches sich die ganze wissenschaftstheoretische Schwierigkeit dieses Themas wie fokusartig konzentriert. Ein grosser Teil der Schwierigkeiten rührt daher, dass alle Typen des Nationalismus und nation-building durch ihre pure Bewegung tatsächlich fehlende Institutionen ersetzen wollen, bzw. diese durch ihre dynamische Existenzform solche Institutionen effektiv vorbereiten9. Dazu gehört es auch, dass alle diese Typen sich in zahlreichen konkreten Situationen befunden haben, welche auch ihre Einstellung zur latenten oder wirklichen Institutionenbildung möglicherweise auch abwechselnd bestimmt haben. Ein anderer Teil der Schwierigkeiten rührt von dem Schwierigkeitsgrad dieser Wahrnehmung für das Alltagsbewusstsein. Wir sehen darin zunächst ein prinzipiell-wissenssoziologisches Problem der sozialen Wahrnehmung. Demnach ist es für das Alltagsbewusstsein eine an der Unmöglichkeit grenzende Schwierigkeit, die in einzelnen konkreten Situationen je anders sich artikulierende latente Institutionenbildung nicht auf (illegitime und irreführende) statische, sondern auf (legitime und rationale) dynamisch-funktionale Weise wahrzunehmen. Auf dieser ersten Ebene ist also die nach dem Muster eines Staates, einer vormodernen Gemeinschaft oder (man staune nicht) nach dem Muster einer grossen Massenpartei vorgestellte Nation alles andere als verwunderlich. Es versteht sich von selber, dass auf einer schon etwas höheren Ebene diese Wahrnehmung sowohl mit den Anforderungen der kritizistischen Wissenschaftlichkeit wie auch der republikanischen Demokratie und eines demokratischen internationalen Lebens konfrontiert werden muss10.
Aus diesem Grunde trifft Ernest Renans Beschreibung der Nation ins Schwarze. Denn das tägliche Plebiszit ist gerade jener Akt, durch welchen diese latente oder virtuelle Organisation tatsächlich realisiert wird und sie existiert nur, wenn sie realisiert wird. Sei aber an dieser Stelle auch noch so viel fixiert, dass hier auch die genuinen Schwierigkeiten des soziologischen Ansatzes über die Nation sichtbar werden können. Vergessen wir aber nicht, dass Renan diese dynamisch-funktionale Definition in einem Land geben konnte, welches im Vergleich zu den anderen Regionen Europas in jeder politischen und sozialen Hinsicht weitgehend das fortgeschrittenste war. Es wäre lehrreich, die Plausibilität dieser an sich einwandfreien und mustergültigen Definition in einem verspäteten Land nachprüfen, in welchem der nation building etwa seit den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts abspielen musste.11
Die von vielen Akteuren auf legitime, aber auch auf illegitime Weise als unsichtbare oder virtuelle Institution aufgefasste Nation ist letztlich doch keine, welche einen soziologischen Normalgegenstand konstituieren könnte. Es eröffnen sich aber auch andere soziologische Möglichkeiten, die einerseits sich makellos unter die Normalgegenständlichkeit der Soziologie einordnen, andererseits aber die Nation als Nation und als Gegenstand gleichzeitig reduktiv auflösen. Während die Nation als latente Institution soziologisch nicht beschrieben werden kann, lässt sich die soziologische Gliederung einer Nation beschreiben, in deren Ordnung die einzelnen soziologischen Gruppen ihre eigenen Visionen über die Nation haben. Im ersten Fall lässt sich also eine im spezifischen Sinne virtuelle Realität nicht beschreiben, während im zweiten Fall eine Realität so beschrieben werden kann, dass sich indessen der Gegenstand als Gegenstand aufgelöst wird.
Gerade diese Einsicht in die Aktualisierung, bzw. Aktualisierbarkeit der Nation als virtueller Institution macht auch Alfred Fouillées Bestrebungen so exzeptionell. Als virtuelle Institution erweist sich die Nation aber als eine, an der alle Einzelne sich beteiligen. Mit einer etwas modernisierten Terminologie ausgedrückt, entfaltet Alfred Fouillée eine funktionale, pragmatische und interaktionistische Anschauung. Im Sinne der virtuellen Institution wird Nation als ein Komplex dargestellt, für welches eine allgemeine Weise des Gefühls, der Wahrnehmung, des Denkens und des Wollens charakteristisch ist. Diese funktional- interaktionistisch-pragmatische Auffassung bedeutet für Fouillée die Verwirklichung eines Programms der höchst erreichten Stufe kritizistischer Wissenschaftlichkeit. Unter einem anderen Aspekt ist sie die intransigente Beseitigung jeder romantischen oder romantisch-organizistischen Auffassung über die Nation. Und man darf keineswegs denken, dass letztere Auffassung etwa jederzeit mit Notwendigkeit ohne wissenschaftlich-szientivische Unterstützung da stehen muss, denn gerade das hier thematisch gemachte Wollen, die Gefühle oder andere Evidenzvorstellungen den manchmal sehr unromantisch-sachlichen Hintergrund für organizistische Konzepte abgaben.
Die gegenseitigen Aktionen der Individuen produzieren ein gemeinsames, ein kollektives Bild, welches dann für die Einzelnen gemeinsam charakteristisch ist. Eine merkwürdige historisch motivierte und ebenfalls historisch verursachte Verschiebung lässt sich jedoch in diesen wahren Grundzügen von Fouillées Definition wahrnehmen. Die sich stets ändernde historische Perspektive, worin für Fouillée die gemeinsamen Akte letztlich problemlos als subjektiv erlebbar gedacht worden sind, kommen für die heutige Analyse eher als objektiv, oder exakter, als objektiviert vor.
Ungeachtet dieser historischen Verschiebung umfasst Fouillées pragmatische und funktionale Definition alle relevanten Facetten dieser Einstellung. So erscheint die Nation als eine soziologisch determinierte Gruppe, ohne dass sich diese Soziologie illegitimerweise mit der Soziologie anderer Gruppen mischen würde. Der Nationalcharakter erscheint als eine besondere Kombination von psychischen Kräften, die sich gegeneinander fortwährend austauschen, welcher Austausch dann auf das Innere der Individuen auswirkt. In diesem gegenseitigen Austausch multiplizieren und homogenisieren sich die Eindrücke und diese gleichzeitige und aufeinander abgestimmte Homogenisierung macht die einzelnen Individuen in derselben Nation einander ähnlich. Es ist jetzt der erste Ort in dieser Arbeit, an dem wir den qualitativ wohl wichtigsten Unterschied zwischen Fouillées pragmatisch-funktionaler Definition der Nation und den erst nach 1945 sich artikulierenden pragmatisch-funktionalen Definitionen beim Namen nennen können. Die nach 1945 entstandenen Definitionen wenden ein kommunikativ-pragmatisches Modell von soziologischer Provenienz auf die Gesellschaft auch als auf die Nation von oben an, womit sowohl der tautologische Wahrheitswert wie auch letztlich die inadäquate Anwendung und der Verlust der spezifischen Züge der Nation als gesichert gelten kann. Fouillée tut bei jeder scheinbaren Aehnlichkeit etwas vollkommen anderes. Er baut das kommunikativ-pragmatische Modell der Nation von unten auf und verliert dabei die spezifischen Züge einer Nation für keinen Augenblick aus den Augen. Diese Richtung des Aufbaus von unten garantiert es auch, dass Fouillées Verfahren für keinen Augenblick zu einem theoretischen Vorgehen im problematischen Sinne wird, d.h. jedes Element dieses Ansatzes letztlich ein klar nachvollziehbares, problemlos verifizierbares Moment ausmachen kann12. Selten wird sowieso auf dieses Moment hingewiesen. Denn die vorhin angesprochenen, einander diametral gegenüberstehenden beiden unterschiedlichen Ausgangspunkte enthalten die Gefahr einer unbegründeten theoretischen Verallgemeinerung, einer unsichtbar ihre Wirkung ausübenden Metaphysik oder eines metaphysischen Residuums ebenfalls in weitaus unterschiedlichem Ausmass. Es kann darüber kein Zweifel bestehen, dass das Verfahren von unten in dieser Hinsicht die viel vorteilhaftere Position besitzt13.
Jede gemeinsame Determination, die eine Nation ausmacht, wirkt momentenhaft, jede kann realisiert werden und dann funktioniert sie tatsächlich (und funktioniert mit ihnen auch die Nation), keine Determination, bzw. keine Gruppe der Determinationen existiert jedoch kontinuierlich und wird auf diese Weise statisch-metaphysisch. Der Zusammenhang, der hier vorherrscht, ist ein besonders schwieriger. Der Gegenstand, um welchen es hier geht, ist die Nation, ein Gegenstand, der schon zur Zeit der Abfassung des Werkes von Fouillée eher ein tradionelles und keineswegs ein allzu modernes Objekt war. Der von Fouillée (meisterhaft und den fortgeschrittensten methodischen Idealen voll entsprechend) gehandhabtes Verfahren konstitutiert diesen scheinbar so problemlosen und selbstverständlichen Gegenstand auf eine methodisch so komplizierte Weise, was eine deutliche Spannung zwischen der scheinbaren Problemlosigkeit des Gegenstandes und der (für das Alltagsbewusstsein nur selektiv verständlichen) avancierten Methode markiert14. Dies kann - unter anderen hier ansprechbaren und nicht weniger erklärungsbedürftigen Phänomenen - erklären, warum hinter den beiden entgegengesetzten Positionen über die Nation (wie auch über die Modernisierung generell) nicht nur zwei politische oder kulturelle, sondern auch zwei erkenntnistheoretische oder kognitive Positionen stehen können.
Die Konstitution der Nation erfolgt durch das Aufweisen von einer allgemeinen Weise des Gefühls, der Wahrnehmung, des Denkens und des Wollens, von Elementen, die sich in den gegenseitigen Aktionen und Interaktionen realisieren aber auch nur in ihnen entwickeln kann. Die gemeinsame Praxis, die miteinander ausgeführten Interaktionen produzieren kollektive Bilder, die auch die Geschichte der Nation mit einbeziehen. Wir können jedoch sicher sein, dass sich auch diese historischen Dimensionen sich in gegenwärtigen Interaktionen verkehren.15
Die Hinwendung zur Geschichte zeigt uns die wesentlichste wissenschaftstheoretische und methodologische Eigenschaft Fouillées viel klarer als es die präsentistisch gegenwartsorientierte Momente allein illustrieren könnten. Diese Eigenschaft verdankt Fouillée seiner eigenen Schule, dem kritizistischen Positivismus oder dem positivistischen Kritizismus. Sie kann sich auch an die wohl problematischsten Gegenstände heranwagen, weil sie vor jeglicher Gefahr einer Implementierung der metaphysischen Gefahr gefeit ist. Fouillée kann - und damit kommen wir zu unserem ursprünglichen Ausgangspunkt zurück - mit dem ruhigsten wissenschaftlichen Gewissen über historische Bilder sprechen, die der Nation gemeinsam sind, weil er durch eine ganze Reihe von methodischen Vorkehrungen vor jeglicher Metaphysik geschützt ist.
Uns scheint es doch, dass die soziologische Interpretation der Problematik und der Gegenständlichkeit der Nation von unveränderter Anziehungskraft für eine nicht den trivialen Einstellungen verpflichteten sozialwissenschaftliche Methodik oder theoretische Gesellschaftsanalyse sein muss.
Alfred Fouillées soziologischer Ansatz beschreibt eine Nation auf pragmatisch-funktionale Weise. Dass es ein einwandfrei soziologischer Ausgangspunkt versteht sich von selber. Gleichzeitig aber erscheint die damals stark werdende Soziologie auch im Kontext anderer Fragestellungen auf diesem Plan. Es ist eher ein zufälliger Zusammenfall, dass wir in dieser Arbeit und an dieser Stelle eben Max Weber wählen, nach dem die eigentlich soziologische Fragestellung der Nation gerade diejenige ist, die soziologische Problematik jener Schichten zu untersuchen, die die Nation tragen, bzw. ausmachen. Dieser Ansatz wird gleich sinnvoll, wenn man an den unbezweifelbaren Tatbestand denkt, dass jede Konzeption über die Nation, jeder Nationalismus also, die Vision oder der Nationalismus einer bestimmten und soziologisch zu kategorisierenden Klasse, bzw. Gruppe ist.
Bevor wir auf eine nähere Beschreibung der beiden Grundeinstellungen eingehen würden, muss klar gemacht werden, dass dadurch die soziologische Annäherung der Nation selbst von Anfang an zweigeteilt wird. Die diesem Tatbestand entstammende Konsequenz und These ist, dass man zumindest hypothetisch annehmen muss: Die Erfolglosigkeit der Soziologie auf dem Gebiet der Nation (ausser relevanten anderen Komponenten) folgt aus der Tatsache, dass (zumindest) zwei schätzungsweise ähnlich grosse soziologische Konzepte einander im Kern der Disziplin gegenüberstanden. Somit kann man mit gutem Recht annehmen, dass der soziologische Ansatz über die Nation (neben anderen Faktoren) zum Opfer eines so gearteten, sich in zahlreichen konkreten Erscheinungsformen manifestierenden Begriffskonfliktes geworden ist. Auf der einen Seite steht die moderne Nation als Ganzes als ein mögliches Objekt der Soziologie. Verschiedene Variationen dieser strukturellen Position sind die pragmatisch-funktionalistische Interpretation Alfred Fouillées oder eben die auch mit Fouillée in Verbindung zu bringende Auffassung über die Nation als eine virtuelle Institution, in welchem Zusammenhang auch der real existierende und gegebenenfalls sogar erfolgreiche Nationalstaat oder andernfalls der erst für die Zukunft projizierte und erst noch auszubauende Nationalstaat nur unvollkommene Realisierungen der wahren und klassischen virtuellen Institution Nation sind. Es ist höchst interessant, dass die hier gemeinte virtuelle Institution auch noch in Konzeptionen erscheinen kann, in denen die Problematik der Nation und des Nationalstaates mit übernationalen Integrationen konfrontiert wird, dabei kann auch die Nation als virtuelle Institution mit dem gleichen Recht teilnehmen16. Auf der anderen Seite steht der soziologisch einwandfrei legitime Ansatz: Die Soziologie der Nation ist die Auffassung der einzelnen wohl definierbaren soziologischen Klassen, bzw. Gruppen über die Nation, wie es aus Max Webers vorhin zitierter klarer Beschreibung hervorkommen dürfte. Weder die soziologische, noch die allgemein-szientivische, aber auch die pragmatisch-politische Dimension dieser Auffassung darf unterschätzt werden, denke man zum Beispiel nur daran, dass so partikuläre Auffassungen überhaupt nicht nur von akademisch-wissenssoziologischem Interesse sind, bei jeder Wendung der Politik kann so eine Auffassung in die Lage kommen, als allgemein-generelle Auffassung der ganzen Gesellschaft aufgetischt zu werden17.
Dieser wohl artikulierte Begriffskonflikt zwischen einer Soziologie der Nation als ganzheitlich interpretierbare, holistisch zu verstehende virtuelle Institution und einer Soziologie der Nation als Rekonstruktion des jeweiligen Nationalismus der einzelnen soziologisch adäquat beschreibbaren sozialen Gruppen zeigt aber auch eine weitere Schwierigkeit jeglicher vorstellbaren begrifflichen Deskription dieser Sphäre. Dieser Begriffskonflikt entsteht nämlich überhaupt nicht durch die verschiedenen heuristischen Ansätze der einzelnen Wissenschaftler. Dieser Begriffskonflikt (neben vielfachen anderen, hier nur teilweise oder überhaupt nicht berührten Begriffskonflikten, an denen die theoretische Rekonstruktion der Problematik der Nation ja so reich ist) entsteht in den allermeisten Fällen durch die komplexe und von den einzelnen leitenden Perspektiven diversifizierte Beschaffenheit des Gegenstandes (der Nation) selber. Es ist klar, dass Fouillées pragmatisch-funktionale Beschreibung die französische Entwicklung zum Ausgangspunkt nimmt, wie sehr es bei ihm auch nicht intendiert und wie vielfach er sich mit dieser Situation auch auseinandersetzt. Wie eindeutig es ist, lässt sich durch die Gegenprobe leicht nachweisen. Selbst zur Zeit Fouillées ist es die französische Nation (Nationalstaat, Nationalismus) die einzige, auf welche die pragmatisch-funktionale Beschreibung voll zutrifft. Es lässt sich aber ebenso leicht nachweisen, dass Max Webers Ansatz (welcher auch für viele andere steht), einen umfassenden und amorphen Nationalismus auf seine soziologisch klar identifizierbaren Träger hin zu untersuchen, einen Fortschritt im Kontext des nicht einmal noch soziologisch ausreichend beschriebenen und pragmatisch-funktional wegen einfacher politischer Zwänge und Beschränkungen nicht zu beschreibenden deutschen Nationalismus ist18.
Mit anderen Worten: Alfred Fouillées Arbeit manifestiert einen der wesentlichsten Begriffskonflikte, die mit Sicherheit verantwortlich dafür gemacht werden könnten, warum es der Soziologie (und den modernen Sozialwissenschaften generell) nur so selektiv gelungen ist, die Problematik der modernen Nation und des (ohne Wertdimensionen verstandenen) neuen Nationalismus verstanden zu haben19. Gleichzeitig müssen wir nochmals unterstreichen, dass zu diesen Begriffskonflikten auch die einmalige gegenständliche Situation wohl beigetragen hatte, dass die auf die Beschreibung wartende Basis der einzelnen Grundsituationen in Europa in dem Ausmass unterschiedlich war, in dem die unterschiedlichen gegenständlichen Bestimmungen (Existenz oder Nichtexistenz der eigenen Staatlichkeit, Existenz oder Nichtexistenz nationalsprachlicher Kommunikation, gegliederter oder amorpher Charakter der tragenden Schichten der national Interessierten, pro- oder antinational eingestellte Machtelite, etc.) es unmöglich machen konnten, einheitliche soziologische (generell: sozialwissenschaftliche) Beschreibungen für diesen Problemkreis in Anspruch zu nehmen. Weil aber der überwiegende Grossteil der wissenschaftlichen Diskussion auf das Nacheinander der stets wechselnden heuristischen Ansätze auf eine als stets gleichbleibend gedachte Gegenständlichkeit fixiert ist, erscheint auch die von der Diversizität der gegenständlichen Sphäre verursachte Veränderlichkeit als eine der einander folgenden neuen wissenschaftlichen Einstellungen20.
Zu den Qualitäten der wissenschaftstheoretischen Integrationsfähigkeit erwähnten wir bereits Fouillées intensiven Austausch mit den allerneuesten Ergebnissen von Durkheim, Guyeau oder Tarde. Dazu muss auch noch die Tatsache hinzugefügt werden, dass Fouillée auch den gesamten Komplex des Darwinismus und des Sozialdarwinismus vor allem in der Gestalt der auesserst intensiven zeitgenössischen Diskussionen über Nation grosszügig in seine Synthese integrativ aufnehmen kann. Er lehnt in der Regel all die oberflächlichen Analogiebildungen, die aus der sozialdarwinistischen Diskussion in die sozialwissenschaftliche Diskussion über die Nation wie automatisch hineinkommen, während er gleichzeitig dieses Hineindringen als vollendete Tatsache des öfteren zur Kenntnis nehmen muss. Das Niveau von Fouillées Kritik wird aber auch angesichts des sozialen Erfolges sozialdarwinistischer Ideen dadurch erhöht, dass er auch noch auf anderen Gebieten die Eigenständigkeit der sozialen Interaktionen gegenüber direkt naturalistischen und physischen Motivationen generell hervorhebt, was wir selbst im Gewebe des Interaktionismus als antinaturalistischen Zug hätten thematisieren können. Selbst aber diese antinaturalistische Dimension wird in Fouillées Händen nicht ideologisch: Er mobilisiert hier nicht selten beste interaktionistisch-funktionalistisch-pragmatische Argumente21.
Diese interaktionistisch-funktionalistisch-pragmatische Rekonstruktion der Nation öffnet aber nicht nur gegenüber dem romantischen Organizismus, dem Sozialdarwinismus, Ludwig Gumplowicz, sondern auch gegenüber den zeitgenössischen Variationen des Marxismus eine Front. Dies kann schon wegen prinzipiellen Gründen nicht anders, denn es rührt direkt von der sachlichen Tiefe des betreffenden Ansatzes. Es ist selbst in diesem Zusammenhang ein Paradoxon, dass Fouillées Kritik an einer der gängigen Formen der marxistischen Sozialphilosophie gerade wegen der gesamtgesellschaftlichen Komponente der Nation, feineren Solidarität, d.h. der Identität formuliert wird. Der kritizistisch-positivistische Ansatz überholt also eine Form des damaligen Marxismus gerade in der Betonung der (interaktionistischen, etc.) Einheit und nicht in der marxistisch-soziologischen Zweiteilung der Nation. Es versteht sich von selber, dass diese methodologisch begründete Konfrontation weit über die Thematik der Nation hinausgeht. Allein aus dem letzten Beispiel lässt sich der wissenschaftslogisch und insbesondere sozialwissenschaftlich anziehendste Zug Alfred Fouillées klar herauslesen. Und es ist sein Kampf gegen unzureichende Wahrheiten und Methoden, seine Einstellung gegen jeglichen Reduktionismus, mit anderen Worten gegen jegliche reduktive Theoriebildung, die ihre eigene perspektivistische Wahrheit zwar ohne weiteres aufweisen kann, allein aber nicht fähig ist, die von ihr gedeckte gegenständliche Sphäre theoretisch auch zu integrieren. Dieser antireduktionistische Zug (der ja auch gegen Ludwig Gumplowicz ebenso wie gegen die Auffassung artikuliert wird, wonach etwa die Volksdichtung geeignet wäre, den Volkscharakter demonstrativ aufzuweisen, darüber ganz zu schweigen, dass er als kritizistischer Positivist den früheren positivistischen Evolutionismus ebenfalls als Reduktion auffasst und ihn wegen dieser Eigenschaft mit dem historischen Materialismus der II. Internationale durchaus mit Recht vergleicht) ist sonach die vollkommen legitime andere Seite der weit entwickelten interaktionistisch-funktionalistisch-pragmatistischen analytischen Methodik, bzw. Theoriebildung, die ihrerseits klassische Manifestationen des perspektivistischen und kritizistischen Positivismus sind.
Dieser antireduktionistische Zug weist direkt auf Fouillées Hang hin, auf Grund seiner positivistisch-kritizistischen Methodologie eine einheitswissenschaftliche Konzeption aufzubauen. Der Antireduktionismus verhindert scheinbar die Wahrnehmung dieser einheitswissenschaftlichen Velleität, indem er stets auf die je aktuelle Einseitigkeit hinweist und sie mit aktuell neuen Momenten ergänzt. Schaut man es aber von einer etwas höheren Warte aus, so kann es klar werden, dass die Gesamtheit der Kritik vieler kontingenter Einseitigkeiten am Ende die Umrisse einer einheitswissenschaftlichen Konzeption aufscheinen lässt.
Eine gleichwertige Symmetrie zu dieser Höchstleistung wissenschaftlicher Erkenntnis ergibt Fouillées klare und prophetisch zu nennende Einsicht in die Prozesse der europäischen Geschichte in seiner Zeit, welche ohne jegliche Übertreibung als zivilisatorischer Höhepunkt interpretiert werden kann. Er schaut das Phänomen eines historischen Fatalismus aufkommen, welches durch die Fokusierung sozialer, gesellschaftlicher, inter-gesellschaftlicher oder anderer politisch definierbaren Konflikte jeglicher Provenienz auf Ethnizität und Rasse (race) für ganz Europa eine tatkräftige Bedrohung darstellt. Wissenschaft (sei es in ihrer höchsten Form) und Politik (sei es in ihrer niedrigsten Gestalt) fallen hier wieder vielfach zusammen. Fouillée prophezeit, dass diese neue Einstellung die Menschheit auf ein tierisches (wissenschaftlich ausgedrückt: zoologisches) Niveau zurückwirft. Er stellt somit auch fest, dass (rassischer) Ethnozentrismus nicht einmal in der Geschichte des Nationalismus ein primäres Phänomen war, sowie diagnostiziert, dass die (deutsche) Auffassung von den Rassen die logische Konsequenz von Höher- und Minderwertigkeit in sich entschliesst.