Durch das Dunkel des Fremden
oder Der
Fremde ist nur in der Fremde ein Fremder
von J. A. Tillmann
Anfangs waren
wir zu Hause. Zunächst im Urmeer des Mutterleibes, dann im Arm
unserer Mutter.
Nach der Geburt wachsen
die Kreise des Vertrautseins: Hinzu kommen Gesichter, die sich uns
zuwenden, Blicke voller Freude über unsere Ankunft, Lichtflecken
und Wandmuster. Später alle Winkel des elterlichen Hauses und
das Netz der wieder und wieder begangenen Wege.
In den frühen
Kreisen ist man meist absolut heimisch. Hinter den bewahrenden Wällen
der Fürsorge tauchen noch keine Fernen auf. Der Himmel liegt
ebenso in Reichweite wie die auf- oder untergehende Sonne.
Doch eines Tages platzt
die Hülle der Geborgenheit mit ihrer tausendfach geschmeckten,
gehörten und gerochenen Welt. Die angestauten Effekte summieren
sich in Erkenntnissen. Das erkundete, vertraute Heim ist umgeben vom
unabsehbaren Unbekannten des Fremden, das sich an den verschiedensten
Stellen zeigt: etwa im Zwielicht kalter Morgendämmerungen, im
pfützendurchsetzten Schlamm, in den unzähligen Schattierungen
des Grau - oder in versteinerten Gesichtern, frostigen Blicken.
Das Heranwachsen bringt
Abhärtung: Im Wechsel erfährt man Anziehung, Nähe intimer
Verbundenheit und Ablehnung, Ferne fremder Abweichung. Dabei kann
es vorkommen, daß man sich tausend Kilometer weit bei nie zuvor
gesehenen Menschen wie zuhause fühlt oder bei den eigenen Landsleuten
die Hölle des Ausgestoßenseins und der Fremdheit durchlebt.
Das letzte Jahrtausend
verlief im Zeichen der Entdeckung und Eroberung unbekannter Erdteile
und fremder Welten. Dieser Prozeß ist abgeschlossen. Das Unbekannte
liegt nicht mehr an fernen Orten der Erdoberfläche verborgen.
Die einst fremden, exotischen - "zoologisch" anderen - Welten
sind Teil der Weltgesellschaft geworden oder ausgestorben. Gen Westen
segelnd können wir neue ebensowenig ausmachen wie auf den Schneefeldern
des Nordens oder jenseits der Wüsten. Das Unbekannte scheint
sich endgültig in sein uneinnehmbares Bollwerk zurückgezogen
zu haben: das Endlose des Himmels, das unter den Elementen Unerreichbare.
Im Zuge der Entdeckungen
spannte sich ein immer dichteres Netz von kommerziellen, technischen,
militärischen, Kommunikations- und Machtbeziehungen über
die neue und alte Welt. Auch das Hinterland blieb nicht unberührt.
Gleichzeitig mit der weltweiten Integration erfolgte eine innere Zerfaserung
der menschlichen Gemeinschaften, eine Separierung ihrer Gruppen und
Individuen. Seither "sozialisiert die moderne Gesellschaft den
Menschen als Fremden" (Hannes Böhringer) und verwandelt
ihn in einen austauschbaren Protagonisten der Arbeitsteilung, der
immer stärker differenzierten Aufgaben.
Die Fremdheit auslösende
Wirkung der "inneren", funktionellen Entfernungen wird durch
die darauf basierenden kulturellen Unterschiede gesteigert. Die frühere
kulturelle Gemeinschaft zerfällt zunehmend in Inselwelten locker
verbundener Subkulturen. (Das geschieht in der "Hochkultur"
ebenso wie in der "Tiefe": Sogar Fachkollegen eines Wissenschaftsbereichs
können nicht unbedingt miteinander kommunizieren - mitunter haben
gleiche Begriffe völlig verschiedene Bedeutungen!) Und durch
die technischen Speicher- und Übertragungssysteme stehen uns
sämtliche vormaligen und gegenwärtigen geistigen Traditionen
zur Verfügung. (Dank der Völkerbewegungen ist das auch direkt
spürbar; vor allem in den Großstädten, die multikulturell
wurden oder werden.) Das Nebeneinander und die gleichzeitige Präsenz
der unterschiedlichsten Traditionen sowie die Beschleunigung der Veränderungen
stellen die Wahrnehmungs- und Adaptationsfähigkeit des Menschen,
die Belastbarkeit der Personen und Gesellschaften ständig auf
die Probe.
Die Ereignisse der
letzten Jahre haben das Problem Fremdheit ins Kreuzfeuer der Emotionen
gerückt. Kulturelle und ethnische Konflikte sind stellenweise
in Bürgerkriege ausgeartet und bis heute nicht beigelegt. Auch
in unserer direkten Nachbarschaft gibt es ausreichend Anzeichen dafür,
wie viele am liebsten in den Banden von Blut und Rasse Zuflucht suchen
würden.
Dennoch ist die Lage
vielleicht nicht so aussichtslos wie manche Symptome glauben machen.
Ich denke dabei weniger an Aktionen gegen den Fremdenhaß, an
die Durchsetzung der Menschenrechte oder ähnliche Dinge, die
ja allemal verletzlich sind, sondern daran, wovon Jean Baudrillard
im Zusammenhang mit dem radikalen Exotikum schreibt:
"Im Lichte all
dessen, was unternommen wurde, um das Andere zu vernichten, zeigt
sich klar und deutlich seine Unzerstörbarkeit, somit die unzerstörbare
Fatalität der Andersheit.
Macht der Idee, Macht
der Tatsachen.
Die radikale Andersheit
widersteht allem: der Eroberung, dem Rassismus, der Ausrottung, dem
Virus der Differenz, dem Psychodrama der Entfremdung. Einerseits ist
der Andere immer schon tot, andererseits ist er unzerstörlich.
Das ist das Große
Spiel."
Dieses Große
Spiel heißt gemeinhin Divina Commedia, Göttliche Komödie
- womit bereits ein anderer, nicht weniger wichtiger Schnitt erreicht
ist. Die Frage aller Fragen steckt nämlich nicht in den Extremen
der gnostischen oder volksnationalen, existentialistischen oder rassenreinen
Fremdheitsdefinition. Vielmehr in der Deutung des Spiels, der Komödie,
des Romans oder ganz einfach des Lebens - und damit in ihrer Verwirklichung.
Kommuniziert doch der Fremde, der Andere am engsten mit Problemen
wie Vielfalt, Einmaligkeit, Freiheit und schließlich Einheit
von Mensch und Welt - auf die ich keine Antwort wagen würde.
Als Versuch für ein mögliches Herangehen empfehle ich lediglich,
sich folgende Zeilen des ungarischen Dichters Jenô Dsida zu
Gemüte zu führen:
"Würde ich jetzt vom Berg herabstürzen
fiele ein winziger, schwarzer Buchstabe
aus Gottes Roman."
Glaubt man Dsida und
berücksichtigt die ganze biblische Überlieferung, derzufolge
nicht nur der Umgang mit Witwen und Waisen, sondern auch mit Fremden
als Prüfstein der Bewertung gilt, ist es im Grunde anders um
die Dinge bestellt als die verschiedenen "christlichen"
und "nationalen" Ausgrenzer verkünden. Die Mission
ist nicht das mythische Dunkel von Blut und Rasse, sondern sie ruft
stets zum Anderen, den wir nur über die feine Skala der gleichzeitigen
Akzeptanz von Gleichheit und Verschiedenheit erreichen können.
Ja, mitunter können wir sogar eins werden mit ihm! Sein Anderssein
ist nämlich jene - seine Person absolut bestimmende - Eigenschaft,
die es nicht gestattet, ihn mit einem oder mehreren anderen unverwechselbar
zu verwischen. Er ist einmalig und unwiederholbar, das heißt,
eine Person. Seine Fähigkeiten und Entscheidungen haben seine
Persönlichkeit geformt, seinen Lebensbogen, seine sich ursprünglich
entfaltende Gestalt. So entstand der "Buchstabe" in Gottes
"Romantext", im sogenannten Buch des Lebens.
Das Fremde, das Anderssein,
die Verschiedenheit bringen neue Farbnuancen in das Vorhandene. Sie
bezweifeln nicht, sondern bereichern. Und dadurch geben sie dem Menschen
weitere Möglichkeiten, schenken ihm neue Töne, Formen und
Klangharmonien - wo immer er lebt, welche Sprache er auch spricht.
In der Musik ist das für mich am prägnantesten. Die gregorianische
Melodie des bekannten ungarischen Volksliedes vom verschneiten Regenbogen,
die in der Kirchenmusik von Johann Sebastian Bach verarbeiteten deutschen
Volkslieder oder die - neuerdings von Agnes Buen Garnas vorgetragenen
- mittelalterlichen norwegischen Kirchengesänge sind überwältigende
Beispiele für die Begegnung zweier "fremder" Welten.
Die Musikwelt des aus hebräischer Kantillation überlieferten,
mit europäischen Effekten durchsetzten "kosmopolitischen"
Christentums verschmilzt reibungslos mit dem aus tiefster Seele stammenden
Melodiegut eines "fremden" Volkes, wobei es sich entwickelt
und verfeinert.
In obigem Zusammenhang
sei ein - an Diogenes gerichteter - Brief aus dem 2. Jahrhundert zitiert:
"Die Christen wohnen in ihrer eigenen Heimat und doch als Fremdlinge;
sie nehmen als Bürger an allem Anteil und ertragen doch alles
wie Fremde; sie sind überall, auch in der Fremde zu Hause, und
doch ist jede Heimat fremd für sie..." Obwohl wir nicht
unbedingt das gesamte Bedeutungsfeld der Worte aus dieser frühchristlichen
Schrift auf uns beziehen können - man glaubt die verständliche
Aversion gegenüber der Reichs-"Heimat" zu spüren
-, haben deren letztliche Einsichten doch immer Gültigkeit. Als
Gäste dieser Welt - als "Wanderer", wie die Christen
in dem Brief an anderer Stelle genannt werden - sind wir in einem
fort unterwegs. In Anbetracht der endgültigen Ankunft stets in
der Fremde. Eingeladen - in der Freiheit des Wachstums und in der
Verbannung.
So ist es seit Urvater
Abraham: Gott schicke den Menschen fort, führe ihn weg vom väterlichen
Haus, in die Fremde: an jenen fremden Ort, den er prophezeie. Dieser
Gott mache den Menschen zu einem Nomaden des Glaubens, meint Martin
Buber. Deshalb fällt das Fremde immer wieder in neuer Form in
unsere noch so heimisch wirkenden Räume ein - als Elend, Schutzlosigkeit
und Armut oder als unüberwindliche Angst, als schreckliche Furcht
vor dem Unbekannten. Diesem elementaren Gefühl verleihen die
Psalmen ebenso Ausdruck wie die Dichter späterer Zeiten. Heidegger
schrieb dazu in seinem Hölderlin-Aufsatz "...dichterisch
wohnet der Mensch...": "Das dichtende Sagen der Bilder versammelt
Helle und Hall der Himmelserscheinungen in Eines mit dem Dunkel und
dem Schweigen des Fremden. Durch solche Anblicke befremdet der Gott.
In der Befremdung bekundet er seine unablässige Nähe."
Dem unbezwingbaren
und ununterbrochen erfahrenen Dunkel und Stummen der Fremdheit steht
eine Einladung gegenüber, eine, die zu Vollkommenheit, zur Ganzheit
von Raum und Zeit, zu unsagbarer Erkenntnis und Einswerdung "berechtigt".