Der
Mensch, die Umgebung und das Meer
Oder: Die
Nationen als Gäste bei den Elementen
von
J.A. Tillmann
In Anbetracht
des Meeres
Allmählich verstehe ich die besondere Vorliebe meiner an-glomanischen
Kollegen für das Inselland. Zumindest in einer wesentlichen Hinsicht
- wegen der unschätzbaren naturbe-dingten Vorteile, die ein Land
mit ausschließlicher Meeres-grenze hat. Trotz aller Schattenseiten
durch die Isolation erspart dieser Umstand nämlich den Bewohnern,
kostspielige und strapaziöse Wallfahrten ans Meer zu unternehmen.
Um dann von der Küste den Blick über das endlose Wasser schweifen
zu lassen (das Fleisch in den Fluten zu kühlen, mit dem Boot die
Wogen zu pflügen usw.). Überdies brauchen Insulaner nicht die
Grenzen ihrer Nachbarvölker zu über-schreiten, deren Territorium
zu durchqueren und sich unver-meidlich (was zu Hause nicht anders ist)
mit ihnen herumzu-plagen. (Allerdings sind auch Springfluten recht reizvoll.)
Ein nahes Meer weiß
man deshalb hierzulande hoch zu schätzen. Zumal heutzutage, da auch
das Operettenland Österreich, gleich den umliegenden Bergvölkern
mit ihren üblichen Nettigkeiten, begann, sich auf den Landstraßen
der Völker in der Rolle einer Barrikade zu gefallen. Diesmal versucht
man, das unverschämte Vorgehen an den Grenzüber-gängen
hinter der Netzmaske eines Europrimus zu verbergen. Das sind gleich mehrere
österreichische, aber nicht nur österreichische Symptome: ein
Schauspiel, von politischen Poseuren erdacht, mit Beamten besetzt und
inszeniert (wobei es uns an den Kragen geht, geht es doch um unsere Nerven,
unsere Zeit, also unser Leben!), das Absurde der europäi-schen (?!)
und noch mehr der österreichischen Identität, das Streben nach
Übertrumpfen. (Dies ist aufgrund bedauer-licher Besonderheiten gleichermaßen
gegen Deutschland und andere Völker der einstigen Monarchie gerichtet.
Gegen er-steres wegen seiner aktuellen Herausforderungen, ja wegen seines
Daseins überhaupt. /Schließlich ist dieses (auch dem Namen
nach seinem etwas größeren Westen gegenüber) kleine Östliche
Reich - Öster-reich! - ohne seine monarchischen Traditionen nicht
viel mehr als ein deutscher Dialekt!/ Und bei letzteren resultiert die
Nettigkeit aus Erbschaftstei-lung und Fragen der Vorgeschichte sowie heutigen,
täglichen Konflikten.)
Der Hintergrund tritt vor
Die lokalen Tollheiten der Region, die man im Abklingen glaubte, sind
trotz der (in geschichtsformender Hinsicht wohl alle übrigen Faktoren
übertreffenden) ständigen Pro-gression von Megatechnik und multinationaler
Mammutwelt nicht verloschen. Sie halten sich massiv. Scheinen sogar für
die Zeit der sogenannten historischen Geschehnisse nur zwecks Kostümwechsel
in den Hintergrund zurückgezogen. Um dann in neuen Masken vorzutreten.
Am stärksten zeigt
sich das Syndrom bei dem etwas wei-ter (& hoffentlich dauerhaft) von uns
entfernten Großen Bruder im Osten. Die Choreographen des Russischen
Reichs-balletts haben den Glacéhandschuh Glasnost abgestreift und
frischen nun uralte Traditionen auf: extreme Hochstapelei, verworrene
Großmachtmarotten und simulierte Salonfähigkeit nach außen.
(Während sie daheim von Kopf bis Fuß in Schei-benkleister stecken.)
Angesichts dieses Rollenspiels kann man nicht umhin, an die tiefgründige
Feststellung eines Analytikers vom vorigen Jahrhundert zu denken: "Moskau
ist mit der scheußlichen und jämmerlichen Schule der mongoli-schen
Sklaverei aufgewachsen und großgeworden. Seine Stärke verschaffte
es sich durch Virtuosität in den Kniffen der Sklaverei. Noch nach
der Selbstbefreiung spielte Moskau die angenommene Rolle des Sklaven als
Herrn." (Karl Marx: "Die Geschichte der Geheimdiplomatie im
8. Jahrhundert")
Aber auch im näheren
Osten werden Traditionen ge-pflegt. Vor einem ungarischen Nationalfeiertag
schwirrten unlängst wiederholt Hubschrauber über siebenbürgische
Re-gionen mit magyarischen Bewohnern. Man übt sich dort eben-falls
in europäischer Integration. (Rumänien berief sich auf "Flüge
zur Vorbereitung des NATO-Beitritts".) Freund-schaftliche Gesten
und raffinierte Argumente sind gleicher-maßen überliefert:
Sie erinnern an die Galanterie der Hohen Pforte, deren orientalische Politik
man sich während der jahrhundertelangen türkischen Besetzung
gedeihlich zueigen machte.
Solange bis
Wenn schon kein Meer unser liebliches Land umspült (das sich
so gut für die verkörperte Metapher vom Fährland¤
ge-eignet hätte, um die Ausgegrenzten der umliegenden Ufer ge-gen
etwas Fährgeld überzusetzen), müssen wir halt nach an-deren
überbrückenden Regelungen suchen. Man könnte zum Bei-spiel
Hängebrücken über die Gebiete der Anrainervölker schlagen.
Das wäre, wie bei Luftbrücken bereits bewährt, eine Lösung
zur Vorbeugung zahlreicher Konflikte (nur frag-lich, wo der jenseitige
Pfeiler stehen würde). Doch da es auch die etwaigen Komplexe des
Überbietens zu beachten gilt, dürfte es zweckmäßiger
sein, den nachbarlichen Pässen und Barrikaden (nach schweizerischem
Vorbild) durch Tunnel auszuweichen. In diesem Fall müßten wir
uns allerdings der (ohnehin behaupteten) Wühlarbeit beschuldigen
lassen...
Da es scheint, daß
selbst die noch so modernen Techni-ken des gegenseitigen Ignorierens nicht
wirklich funktions-tüchtig sind (von so alten wie Aus- und Ansiedlung,
rassi-stischer Sonderbehandlung usw. ganz zu schweigen), sind wir gezwungen,
uns auch weiterhin um friedliche, aber bei wei-tem nicht idyllische Lösungen
für die verschiedenen Kon-flikte des Zusammenlebens zu bemühen.
Was keineswegs bedeutet,
daß es etwa nicht nötig wäre, real auf der Hut zu sein.
(Tatsachen ins Bewußtsein zu rüc-ken - ebenso wie die Traditionen.
Das mentale Anderssein. Die einzelnen Typen der /Nicht/Entsprechung von
Worten und Taten.)
Lernen! Lernen! Lernen!
Außerdem lohnt es sich vielleicht auch, dies und das von den
Nachbarn zu lernen. Von den Österreichern etwa, die Operette auf
Landesebene zu hieven und die Vergangenheit unter hehren nationalen Aspekten
zu vermarkten (analog zu Mozart-Kullern eben Bartók-Beeren).
Und bei den Rumänen
könnte man unter anderem nondi-rek-te Strategien lernen. Gemäß
einem jüngsten Vorbild in dem siebenbürgischen Literaturwochenblatt
"Vorgeschobene Garni-son": Ein (übrigens ungarischer) Autor
erfreute die Leser seiner (ungarisch geschriebenen) Texte mehrmals mit
dem Na-men François Bréda. Womit er es sogar zum Symbol
einer Volksbewegung bringen könnte. Denn warum sollte kein großes
National(itäten)spiel denkbar sein, in dessen Rahmen die dort lebenden
Ungarn französische (Deck-)Namen anneh-men, bevor sie französische
Ausdrücke zunächst in die geho-bene, schließlich in die
alltägliche Sprache einfließen lassen. (Aber selbst inmitten
dieser Zweiten Spracherneue-rung wür-den sie die Pflege ihrer mütterlichen
Sprache nicht verges-sen! Durch den emsigen Eifer ihrer Hacker, angehenden
Phi-losophen und Werbeexperten würden sie nämlich (die wis-sen-schaftliche
Theorie der gallisch/gotisch/keltischen Kon-ti-nuität verbreitend)
in Kürze die Katalogisierung des sie-benbürgischen Ungarisch
als lokalen Dialekt des Gal-lisch/Gotisch/Keltischen erreichen. Ein solcherart
geäußer-tes ostfranzösisches Sein könnte zugleich
bei der mehrheit-lichen, bekanntlich frankophonen Bevölkerung Anklang
fin-den. (Hier könnte man den Ungarn bestimmt keine Fremdheit vorwerfen,
da sie mit ihrer Bewegung dem Beispiel des Mehr-heitsvolkes folgen, und
zwar ganz unmittelbar: jener Tradi-tion, in deren Fazit aus den Walachen
Rumänen /romün/ wur-den, aus der einstigen römischen Sträflingskolonie
/Dacia/ Kontinuität abgeleitet und aus dem Französischen Spracher-neuerung
betrieben wurde...)
Zu Gast auf der Erde
Indessen müßte man, mit der nötigen Umsicht, die Aufmerk-samkeit
der jungen (quasi halbstarken) Nachbarvölker auf die beachtenswerte
Tatsache lenken, daß auch sie auf der Erde zu Gast sind! Daß
sie die gleichen weichen Wesen sind, die im Reich des Lebens befristet
weilen und wirken. Die durchaus nicht immer da waren, geschweige denn
sein werden. Ganz wie unsereins.
Neben den nationalen Sonnen-
und Schattenseiten der Gast-Koexistenz gilt es noch viele andere Bezüge
des Gast-Seins zu bedenken; insbesondere die dringlichen Fragen der Nutzung
gemeinsamer Gewässer und sonstiger Ressourcen - um nur einige zu
nennen.
Als Erben der letzten
(Reiter-)Nomaden Europas müßten vielleicht auch wir hier intensiver
als bislang über all das nachsinnen! Künftig sind derartige
Bemühungen und (Selbst-)Aufklärungen geradezu unerläßlich.
Denn an Ver-schwommenheiten herrscht kein Mangel. Wer da kleinkarierte
Sprachspiele mit Inhalten wie "rumänisch/slowakisch/ungarisch/kroatische
usw. Erde" von sich gibt, hat seine hinterwäldlerische Kindheit
noch längst nicht überwunden. Ganz zu schweigen von Traktaten
mit Sätzen wie "Sie essen serbisch/ungarisch/rumä-nisch/ukrainisches
usw. Brot"! Was außerdem sofort verrät, daß die
Nachricht von der Entdeckung Amerikas, vom Rundsein der Erde noch immer
nicht in die Heimatlande solcher natio-nalen Gedanken vorgedrungen ist.
(Samt allen Konsequenzen und nunmehr zugänglichen Lehren.)
Kopf, hoch!
Auch wenn es uns versagt ist, Meere schnell und einfach zu erreichen,
brauchen wir doch keineswegs alle Hoffnungen fahren zu lassen; schließlich
stehen nach wie vor Unmengen altbewährter Alternativen zur Wahl:
Um die Gelüste unserer Sinne zu stillen, können wir den Kopf
sogar in Meersalz-Wasser stippen... Und last, but not least haben wir
fast überall und jederzeit die Möglichkeit, uns auf den Rücken
zu legen und nach oben in die unermeßliche Tiefe des himm-lischen
Meeres zu tauchen, über die sich dort auftuenden Perspektiven, Lichter
und Jahre nachzusinnen.
Und dann kann sich auch
der ganze umliegende Ost-West-Belag fortscheren...!
¤ Ein Begriff, der durch Endre Ady geprägt und
seitdem öf-ter verwendet wurde.
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