Skizzen über den amerikanischen Weg
von J. A. Tillmann
Max Weber machte im
Jahre 1919 eine überraschende Aussage: in seinem Vortrag über
Wissenschaft als Berufung gelangte er zu der Feststellung, daß
sich das Leben an den deutschen Universitäten, wie überhaupt
unser ganzes Leben, in wesentlichen Punkten amerikanisiert".
Diese Aussage ist vor allem wegen ihres Zeitpunktes beachtenswert. Hinsichtlich
ihres Inhaltes gilt sie heute schon als Alltagserfahrung. Im zweiten Jahrzehnt
unseres Jahrhunderts war der direkte amerikanische Einfluß auf Wirtschaft
und Kultur jedoch im Vergleich zu heute noch verschwindend gering. Für
den in Amerika erfahrenen Weber, der längere Zeit dort verbrachte,
bedeutete Amerikanisierung" deshalb vermutlich etwas ganz anderes:
das schrittweise Erstarken all dessen, was sich in Amerika ungehinderter
und in größerem Maße entwickeln konnte.
Ein zeitgenössischer europäischer Beobachter konnte im damaligen
Amerika etwas wie ein konkaves Spiegelbild erblicken, in dem die europäischen
Prozesse in vergrößerter und forcierter Form aufschienen. Von
daher ist es unzutreffend, in der Amerikanisierung eine von Europa losgelöste
Erscheinung zu sehen. Durch die direkte europäische Präsenz
der Sieger des I. und II. Weltkrieges - erst auf militärischen, später
auf allen Gebieten - änderte sich dies schrittweise. Abweichungen
ergaben sich nicht nur aus dem Aufeinandertreffen eines separierten, seinen
eigenen Weg gehenden Systems mit seinen ursprünglichen Verwandten.
Die entstandenen Differenzen waren weitaus größer. Vor allem
kann eine Frage gestellt werden:
Weswegen gingen
wir gen Westen?
Die Entdeckung Amerikas fällt zusammen mit einer großangelegten
Umordnung der damaligen europäischen Anschauungen. Sichtbarster
Ausdruck war das Interesse für außereuropäische Gebiete.
Dies ging einher mit der Umbildung eines traditionellen Grundmotivs
der jüdisch-christlichen Kultur, dem Gelobten Land, das zunächst
für Israel - nach der ägyptischen Gefangenschaft und nach
der daruffolgende langen Wüstenwanderung - Ort der erfüllten
Verheißung war. Das Land der Verheißung hat sich später
für Christus und seine Nachfolger als Reich Gottes herausgestellt
- jenseits dieser Welt. So wurde das Land der Verheißung deterritorialisiert:
es verlor seine irdische Ausdehnung, wie auch seine territoriale Merkmale
und wurde utopisch, d.h. nicht-orthaft. Im weiteren Verlauf der mittelalterlichen
Geschichte, durch den langen christlichen Jahrhunderten wurde das Ort
der Verheißung schrittweise re-territoralisiert, und als das gesehnte
Gelobte Land wieder irdisch.
Was geschieht mit Utopien,
wenn sie sich erfüllen? Wenn sie einen Topos finden und sich materialisieren?
Wenn die verschiedenen christlichen Utopisten ihren Wünschen in
der Exoterik reales Leben einhauchen können?
Während die Geschichte der katholischen und orthodoxen Kirche von
machtgefärbten Entstellungen geprägt ist, die sich aus dem
Wunsch einer Bewahrung bzw. Schaffung der ursprünglich der (Tisch-)Gemeinschaft
entstammenden Einheit ergaben, so zeichnen sich die Freien Kirchen"
eher durch ein in beliebige Richtung erfolgendes Auseinanderdriften
aus. Die oben erwähnten zentripedalen Kräfte werden von Zeit
zu Zeit von diesen zentrifugalen Bestrebungen kontrapunktiert und ausgeglichen.
Dabei fehlt letzteren allerdings die Bedingung für ein dynamisches
Gleichgewicht. Ihre Geschichte stellt sich uns als eine Folge von immer
neuen Spaltungen dar. Das grundliegende Motiv der "amerikanischen
Religion" ist nach Emerson das self reliance, das Auf-sich-Selbst-Verlassen.
Und in eben diesen Prozeß ist auch die narzistische
Einsamkeit des amerikanischen Gotteserlebnis" einzuordnen -
behauptet Otto Kallscheuer. Nämlich die Tatsache, daß anstelle
der biblisch begründeten Brüderlichkeit und Gemeinschaftlichkeit
die Freiheit, Gleichheit und Einsamkeit des christlichen
Menschen" gelangt.
Aus dem Bewußtsein um die Einsamkeit vor dem Erscheinen Gottes
und der räumlichen Weite entsteht ein neuer Typ der zwischenmenschlichen
Entfernung. Das Halten von Distanz, das zuvor nur zwischen Angehörigen
fremder Kulturen typisch war, wurde interiorisiert und breitet sich
nun auch innerhalb einer Kultur aus. Dies hat zur Folge, daß sich
der Spielraum der einzelnen Individuen gewaltig erweitert. Parallel
dazu gelangen die Mitmenschen in eine beispiellose Entfernung zueinander.
(Dies könnte auch ein möglicher Erklärungsansatz sein
für das Zustandekommen so typischer amerikanischer Institutionen
wie der modernen Sklaverei oder neuerdings der political correctnes.)
Henry D. Thoreau, die emblematische Gestalt des amerikanischen Individualismus,
sprach sich ganz direkt für eine stärkere Distanz unter den
Menschen aus, damit alle animalische Wärme und Feuchtigkeit
Gelegenheit hat, sich zu verflüchtigen".
Militante und
genußsüchtige Hochkultur
In einer Welt der real gewordenen utopischen Hoffnungen und individuellen
Möglichkeiten, "im Herzen des Reichtums und der Befreiung
- schreibt Jean Baudrillard - sich immer wieder folgende Frage aufwirft:
'What are you doing after the orgy?' - Was bleibt, wenn alles verfügbar
geworden, der Sex, die Blumen und all die Stereotypen von Tod und Leben?"
Auf diese Frage geben mir die um 1990 von Ana Barrado in Florida gemachten
Schwarz-Weiß-Aufnahmen ein konzentriertes und eindrucksvolles
Bild. Auf den Fotos sind in irrealem Licht, ja in einer fast überweltlichen
Illuminierung, die Kultgegenstände des heutigen Amerika abgebildet:
seine Bäder und seine Waffen. Zwischen Swimming-Pools, Rohrsystemen
und Rutschen tauchen auf den Hydra-Maniac-Bildern unter Palmen
die Leuchtpunkte des Lebens auf. Wie das antike Rom, so hat auch das
heutige Amerika zugleich ein genußsüchtiges und kämpferisches
Antlitz. Auf einer im Rocket Garden (Kennedy Space Center) gemachten
Aufnahme ist ein Besucher zu sehen, der sich fast verliert inmitten
von silbrig-weißen Idolen, in den Himmel ragenden Säulen
und phallischen Formen. Dieser Techno-Totem-Friedhof, oder besser, diese
Kultstätte der Militärtechnologie gibt Zeugnis ab von einer
kämpferischen Hochkultur. Hervorragend symbolisiert die zwischen
den Raketenkörpern eingebettete Kirche der Militärakademie
von West Point die im
20. Jahrhundert geschehene beispielhafte
Sakralisierung des Kampfes und der Militärtechnologie.
Bedeutend mit hinein spielt hier auch die von Rousseau empfohlene neue
Zivilreligion, der gemeinsame national-bürgerliche Kult,
schließlich ist der Western, die Mythologie der Neuen
Welt, ist Amerikas Zivilreligion" - schreibt in seinem Western-Essay
der Philosoph Hannes Böhringer. Gleichzeitig kann aber auch das
Wirken einer posthumanen technischen Mythologie beobachtet werden. In
dem Maße wie sich das Sakrale technisiert und funktionalisiert,
so sakralisiert sich der Techno-Logos und keilt sich immer besser in
die Räume und um die Individuen ein. Die Drive-In Tempeln
gehören genauso hierher, wie die auf dem Bildschirm agierenden
elektronischen Evangelisatoren oder auch die um das Netz aufblühende
neue Mythologie.
Die neuen Entfernungskulte breiten sich aber nicht nur auf dem Markt
der Religionssurrogate und im Internet aus, sondern in nahezu allen
Bereichen des Lebens. Diesem Triumphzug werden höchstens noch durch
die Borniertheit einiger Kreisen übertroffen: so mußte beispielsweise
die amerikanische Marine in den 80er Jahren nach Protesten der Katholischen
Bischofskonferenz eines ihrer Atom-U-Boote, das bisher den Namen Corpus
Christi trug, umtaufen...
In seinem Amerika-Buch bemerkte Baudrillard daher nicht ganz zu unrecht
folgendes: Wir sind hoffnungslos im Rückstand, was die
Dummheit, die Mutationsfähigkeit, die naive Maßlosigkeit
und die soziale, rassische, moralische, morphologische und architektonische
Exzentrik dieser Gesellschaft betrifft."
Disneyland über
alles
"Die Landnahme Amerikas ist ein Zug nach Westen. An ihrem Ende,
an der Küste des pazifischen Ozeans, von Hollywood aus verbreitet
sich der Mythos dieser Landnahme, die Mythologie der Neuen Welt über
die ganze Erde." - schreibt Hannes Böhringer in Deutschland,
dem wahrscheinlich amerikanisiertesten Land Europas, wo man nach dem
II. Weltkrieg im Zuge der von der Weltmacht Amerika verordneten Reeducation"
nicht nur mit der Vergangenheit gebrochen hat, sondern auf nahezu allen
Gebieten der Gesellschaft ein dem amerikanischen Muster folgender Weg
eingeschlagen worden ist. Das Gesicht des Ruhrgebietes wird
immer amerikanischer" - stellte der Architekt Karl Ganser neuerlich
bei der Eröffnung der größten europäischen Shopping
Mall fest. Deshalb könnte eigentlich ganz Deutschland die Aufschrift
eines kürzlich eröffneten Kino-Zentrums von Warner Bros. tragen:
Hollywood in Germany. Doch nicht nur Deutschland, die ganze Welt
wird amerikanisiert.
Die Ausbreitung der Mythologie der Neuen Welt vollzog sich natürlich
zuerst in deren Geburtshaus. Die technischen Bedingungen für eine
Hollywoodisierung Amerikas wurde zwischen den beiden Weltkriegen durch
eine Welle von Kinoneubauten geschaffen. Das Ganze gipfelte Ende der
20er Jahre in der Errichtung wahrer Riesenkinos in der Dimension von
Kathedralen. Die Effekte der Lichtgeschwindigkeit schufen in
diesen Tempeln eine neue Form von kollektiver Erinnerung" -
schrieb darüber Paul Virilio in seinem Buch Krieg und Kino.
Die Schaffung dieser Filmkathedralen fiel mit der neuen Form des
kollektiven Erinnerns", mit der goldenen Zeit des Westerns zusammen.
Dieser ist nicht nur ein Genre des amerikanischen Kinos, sondern zugleich
auch ein eigentümliches, cinematographisch konstruiertes Nationalbewußtsein.
In diesen, aus historischen Elementen, erhabenen Landschaften und individuellem
Heldenmut zusammengesetzten komplexen Werken werden die darin gezeigten
Verhaltensweisen und Werte des nationalen Selbstverständnisses
trainiert. So ist auch der Westernheld - schreibt Hannes
Böhringer - der Kern einer politischen Mythologie, die national
und universalistisch zugleich ist. Von allen Mythologien des 20. Jahrhunderts
ist sie als die menschlichste übriggeblieben und über die
Jeanshose und die Zigarettenwerbung in den selbstverständlichen
Alltag aller Kulturen eingegangen".
Diese Mythologie ist dermaßen in unseren Alltag eingedrungen,
daß es heutzutage nicht mehr so leicht ist, einen Gegenstand zu
finden, der nicht mit irgendeinem ihrer Elemente benetzt ist. Auch die
großohrige, gesetzlichen Schutz genießende Maus auf dem
Trinkbecher meines Sohnes verkündet schließlich diese Mythologie.
Diese Gegestände sind auch was Tongefäße im Alten Griechenland
waren: Trägern eines dominanten kulturellen Musters (abgesehen
diesmals von den inhaltlichen Verschiedenheiten). Die Beeinflussung
vollzieht sich immer weniger mit direkten militärischen und politischen
Mitteln, sie geschieht entlang der technologischen kommunikativen Vektoren,
über die Ausbreitung der Produkte der herrschenden Kultur. Dominate
culture today and you control the laws in 15 years - subsumiert
Mark Stahlman nüchtern.
Amerika ist nicht direkt erfaßbar. Es teilt sich uns vor allem
über seine Bilder mit, die weltweit präsent sind. In jedem
von uns wirken sie bereits. Sie beeinflussen nicht nur unsere Vorstellungen,
sondern sind auch in Form direkter Zwänge zu verspüren. Als
krassestes Beispiel sei auf den Geschwindigkeits- und Innovationszwang
verwiesen, der sich als Konsequenz eines sich selbst steuernden Prozesses
der militär/technologischen Entwicklung auf die Welt gestürzt
hat.
Daß sich die Expansion in einer derartigen Größenordnung
vollziehen konnte, liegt an der Homogenität des durch die Eroberung
entstandenen sozialen und wirtschaftlichen Raumes (relative Geschichtslosigkeit
bzw. die Verbannung der kolonisatorischen Vorgeschichte aus dem Bewußtsein,
die Beliebigkeit des Ortes und die Undifferenziertheit). Aber auch die
einzigartigen geographischen Gegebenheiten spielen genauso mit hinein,
wie die Herausbildung der in seiner territorialen und sozialen Verhältnisse
freieste Individualität. Wir Amerikaner - schreibt
der ungar-amerikanische Schriftsteller Paul Olchváry - haben
einen derartigen Raum für Ortsveränderungen (und meistens
auch die materiellen Möglichkeiten dazu), daß wir uns nicht
nur davon überzeugt haben, daß wir dahin gehen können,
wohin es uns beliebt, sondern auch, daß wir werden können,
was uns beliebt."
Die Glaubenswelt
von
Hollywood und seiner
Provinz
Heute ist bereits
die überwiegende Menge der weltweit vertriebenen Filme amerikanischen
Ursprungs. Die Filme wirken in ihren verschiedenen Formen als eine Reklame
von bestimmten Lebensformen. In diesem Medium erscheinen am augenfälligsten
die zu folgenden Gegenstands-, Wert- und Verhaltenssysteme. Das Bild,
das weltweit von Amerika existiert, ist nicht zuletzt der mit großindustriellen
Methoden produzierten und mit ausgefeilten Strategien verbreitenen Lebensform-Reklamen
zu verdanken.
Für die äußere Welt stellen die Bilder von Amerika das
Maß und zentrale Muster dar. Die Wirkung der führenden Weltmacht
ist deshalb so durchschlagend, weil sie von innen auf die Menschen wirkt.
Ständig wird an dieser Wirkung weitergefeilt. (Für die beispielfolgende
Bevölkerung der Erde eröffnet eine amerikanische Fast-Food-Kette
weltweit alle drei Stunden ein Lokal. Diese Firma hat kürzlich
mit dem Maus-Geschichten produzierenden Filmunternehmen einen langfristigen
Kooperationsvertrag abgeschlossen.)
Die Produkte, mit denen die Menschheit, vom Kind bis zum Greis, ununterbrochen
überflutet werden, sind eine Ware, die eng mit der Persönlichkeitsentwicklung
der Menschen in der Schönen Neuen Welt zusammenhängt. Die
Menschen, welche die sogenannte Gesellschaft bilden, sind hier noch
unfreier als in Europa. Es scheint aber, daß sie es nicht empfinden,
weil die Lebensform die Entwicklung der Persönlichkeit von der
Jugend an unterbindet" - schrieb Albert Einstein 1933 in einem
Brief an Königin Elisabeth von Belgien.
Die Widersprüche der neuweltlichen Liberty zeigen sich bei einem
Versprechen von unbegrenzten Möglichkeiten in einem Fehlen von
Freiheit. Parallel dazu gibt es das Paradoxe der amerikanischen Individualität:
die manisch betriebene Egologie führt in ihrem Endeffekt zu Konformität
und Einförmigkeit. Interessanterweise - schreibt der
Neurologe Detlef B.Linke - ist die Amokreaktion zur Zeit in den USA
noch wesentlich häufiger als in Westeuropa. Darin zeigt sich vielleicht,
daß die Massenhaftigkeit des Individualkults sich am Schluß
doch wieder in relativ gleichförmige Verhaltensweisen kanalisiert."
Vorweggenommene
Zukunft
Amerika dient gleichsam
als erfolgreiches und beispielgebendes Experiment bei der Suche nach
dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Dies zu finden ist heute Existenzbedingung
der sich ständig weiter differenzierenden und segmentierenden modernen
Massengesellschaften. Auf diesem Gebiet hat Amerika von Anfang an Vorsprung,
denn die Differenzen der aufeinander folgenden Einwandererwellen mussten
bewältigt werden. So stellte sich eine stillschweigende Forderung
nach Nivellierung der kulturellen Besonderheiten als Bedingung eines
neuartigen Zusammenlebens. Diese benötigt den sich Tag für
Tag erneuernden Mythos der neuen Kollektivität und das Betreiben
neuer identitätsstiftender Verfahren. Es ist vielleicht auch kein
Wunder, daß der amerikanische Kollektivismus, trotz eines immer
wieder beschworenen Individualismus, in vielen Zügen dem sowjetischen
Modell auf frappierende Weise gleicht. Der rußlandstämmige
französische Philosoph Alexandre Kojéve äußerte
dazu folgende bemerkenswerte Gedanken: nachdem ich mehrere,
einen Vergleich ermöglichende Reisen in die Vereinigten Staaten
und in die UdSSR unternommen habe (1948 - 58), haben mir diese den Eindruck
verschafft, daß, wenn die Amerikaner nur wie reiche Chinesen oder
Sowjets wirken, dies nur deshalb der Fall ist, weil die Russen und die
Chinesen nichts sind als noch arme Amerikaner, gewissermaßen mit
Aussicht auf rasche Bereicherung. Ich war gehalten, daraus zu schließen,
daß der american way of life die eigentliche Lebensweise der posthistorischen
Periode sei, und die Allgegenwart der USA in der Welt die zukünftige
"ewige Gegenwart" einer einzigen Menschheit vorwegnehme. So
schien mir die Rückkehr des Menschen zum Tier nicht mehr eine noch
ausstehende Möglichkeit, sondern eine schon gegenwärtige Gewißheit
zu sein."
Seine Vision, die er ¸brigens als Sachkundiger der OECD entwickelte,
wird einige Jahrzehnte später auch von Baudrillard unterstrichen:
Im Grunde sind die Vereinigten Staaten mit ihrem Raum, ihrem
technologischen Raffinement, ihrem brutalen guten Gewissen die einzige
aktuelle primitive Gesellschaft."
Wild West
Der Einzug
in das gelobte Land Amerika ist ein Weg in die Wildnis der neuen Welt"
(Böhringer). In den wilden Westen. Dorthin, wo das Wilde, zuweilen
in Gestalt von Indianern, ständig präsent ist. Die Wildheit
der Welt ist eine in uns allen schlummernde Wildheit. Die Wilden der
Neuen Welt haben Teile des Bewußtseins der alten Welt und die
Wildheit der Neuen Welt in sich integriert. In uns allen verbirgt sich
eine indianische Bestie. Die Gewalt - so Baudrillard -
entsteht nicht aus dem sozialen Bezug, sondern aus allen Bezügen,
sie ist exponentiell." Obwohl diese Feststellung nicht weiter
ausgeführt ist, wird ihre Gültigkeit dennoch Tag für
Tag auf den verschiedensten Gebieten bestätigt. So kann man beispielsweise
lesen, daß ein Amerikaner bis zum Alter von 18 Jahren durch das
Fernsehen durchschnittlich Zeuge von rund 18.000 Morden wird. All dies
entspringt laut Baudrillard der Absicht, die physische und
gesellschaftliche Negativität" zu vernichten. Aus dem
Wunsch nach einer utopischen Welt, aus der solche Dinge eliminiert sind,
die der Zivilisation entgegengerichtet sind. In der aber Zusammenstöße
der nach Selbstverwirklichung strebenden Individuen unvermeidlich sind.
Auch das animiert zur Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Jetzt,
wie auch in der
Vergangenheit. Die mitgebrachte, über Jahrhunderte verfeinerten
Zeichensysteme werden derart dekonstruiert, daß sie im Kreise
der Mormonen genauso auf Verständnis stoßen wie unter Mexikanern.
Am offensichtlichsten äußert sich dies in der Sprache: Der
Amerikaner - schreibt der österreichischstämmige Psychologe
Paul Watzlawick - hat eine von der unseren grundsätzlich verschiedene
Einstellung zur Sprache. Niemand hat ihm je den Gedanken nahegelegt,
daß Sprache etwas Ehrwürdiges sei, ein natürliches Lebewesen,
das, wenn nicht gepflegt und erhalten, sehr rasch entartet und verkümmert.
Die Sprache ist für ihn ein Verbrauchsmitttel, ebenso wie ein Papiertaschentuch;
er kann alles mit ihr tun; er verspürt keine innere Beziehung zu
ihr."
Heldenreklame
Der Westernheld
verkörpert nicht nur einen Stil - schreibt Böhringer -,
ihm fällt zugleich auch eine gewaltige Aufgabe zu: die Rettung
Amerikas. Die Heldenverehrung des Cowboys ist eingelassen in den Starkult,
die Sternenreligion Hollywoods. Der Star verbindet die verschiedenen
von ihm gespielten Filmrollen zu einer einzigen Rolle und durchsetzt
sie manchmal sogar mit seiner Biographie." Die dem Firmament
folgenden Übermenschen haben keine Identitätsprobleme. Ihren
Leitbildern folgend gestalten sie ihre Wünsche, trainieren und
ernähren ihren Körper nach wissenschaftlichen Methoden. Jede
einzelne, über den Narzißmus hinausgehenden Bewegung ist
eine persönliche Investition in den sozialen Sektor. Jedes Lächeln
vervielfältigt die Wirksamkeit des Kapitals Körper. Unverzichtbar
ist daher die Gesichtsmassage nach dem Aufstehen. Ebenso die genau einstudierten
Sympathiebekundungen. Der elektrisierte Körper verrichtet eine
Lebensgymnastik, damit er in der Lage ist, auch schnellere Zeichenabfolgen
zu erkennen - in Hinblick auf die transhumanen, technisch bedingten
Perspektiven.
Künstliches
Universum
Im Western ist
der Mensch von Prärie und Wüste umgeben, von einer gleichzeitig
erhabenen und bedrohlichen Landschaft. Die Wüste stellt für
diese Art der Zivilisation eine Bedrohung dar. Die Städtchen des
Wilden Westen liegen inmitten von unbewohnten Gebieten, riesigen Entfernungen,
unüberschaubaren Räumen. Nur die Eisenbahn stellt eine Verbindung
zur Zivilisation dar.
Während der Jahrhunderte des Go West trafen die Einsiedler
nicht mit einer bereits jahrhundertelang kultivierten Landschaft und
mit aus Europa gewohnten nachbarschaftlichen Verhältnissen zusammen,
sondern mit echter Wildheit: mit wilden Menschen und wilder Natur. Gegen
die bedrohende Natur schützten sich die Siedler mit Wagenburgen.
Sie schufen in der Wüste künstliche Oasen der Zivilisation.
Nichts ist den amerikanischen Wüsten fremder als die Symbiose
(flatternde Kleider, langsame Rhythmen, Oasen), wie man sie in den 'autochthonen'
Wüstenkulturen findet. Alles Menschliche ist hier künstlich"
- so Baudrillard, obwohl er in der Wüste ein Grundmerkmal der amerikanischen
Existenz sieht. Der innere Beobachter Paul Olchváry bemerkt dazu:
Wir Amerikaner - oder überhaupt: wir heutigen Menschen,
die noch nicht aus dem Zug der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung
und einer immer effektiveren Kommunikation ausgestiegen sind, versuchen
die Natur auf bewußte und widernatürliche Weise zu begreifen,
in der Hoffnung, daß wir uns von ihr unterscheiden können.
Wir stellen uns vor, daß uns die Natur gehört. Daß
sie unser Eigentum ist."
Cyber-Amerika
Amerika hat
keine festen Grenzen. Es ist nicht ein für alle Mal definiert".
(Böhringer) Die Expansion setzte sich nach der Eroberung und Bevölkerung
Amerikas in einer völlig neuen Welt, eines außerirdischen
Gebietes fort. Die Wendung der Expansionsrichtung hin in den Weltraum
ist eine logische Konsequenz aus der Raumerfahrung in der Neuen Welt
und der während ihrer Erschließung entstandenen Individualität.
Die Erfolge bei der Eroberung des Weltalls und überhaupt
die Erfolge auf dem Gebiet der Technik - schreibt Olchváry
-, können letztlich als eine Ausweitung des inneren Raumes von
Nordamerika - und wagen wir uns noch ein Schritt weiter - als unseres
eigenen inneren Raumes betrachtet werden."
Das in den 60er Jahren begonnene und in der Mondlandung gipfelnde Apollo-Programm
stellte den ersten Höhepunkt dar bei der Suche nach dem gelobten
Land. Und zeigte zugleich auch erste Grenzen dieser Suche auf. Der von
himmlischen" Hoffnungen geführte Griff nach den Gestirnen
erwies sich als Endpunkt der expansiven Bestrebungen. Es wurde schnell
klar, daß es nicht nur die Kosten waren, die uns davon abhalten
würden, zu anderen Planeten zu reisen oder uns für längere
Zeit auf orbitalen Raumstationen oder gar anderen Himmelskörpern
aufzuhalten, nein, der Grund war viel natürlicherer Herkunft: der
Mensch ist ein für die Erde geformtes Lebewesen. Längere Aufenthalte
in der Schwerelosigkeit oder in kosmischer Strahlung sind seiner Gesundheit
einfach abkömmlich. Zumal die Wüstenlandschaften des Mondes
oder auch die des Mars nun wirklich kein sehr einladendes Ziel für
zukünftige Siedler darstellen.
Doch mit dem Abschluß des Apollo-Programms begann ein Programm,
in dessen Rahmen die Eroberung der Neuen Welt fortgesetzt werden konnte,
diesmal im Cyberspace. Das Jahr 1971 ist das Geburtsjahr des ARPANET.
Dieses Netz, das ursprünglich aus militärischen Überlegungen
heraus entwickelt worden war, schuf die Grundlage für eine Verbindung
verschiedener Computer sowie der virtuellen Welten ihrer Anwender. Die
seit der Entdeckung der Neuen Welt mit ungebrochenem Elan geführte
Expansion war zwar äußerlich gestoppt, doch nun eröffneten
sich im Inneren der Technologien erneut unendliche, zu weiteren Eroberungen
einladende Weiten. Der Cyber-Space versprach die Erfüllung eines
alten amerikanischen Traumes. John Perry Barlow, einer der Evangelisten
des Netzes, schreibt in seiner Unabhängigkeitserklärung
des Cyber-Space" prophetisch: Wir schaffen eine Welt,
in der jeder einzelne Mensch an jeder Stelle seine Meinung äußern
kann - egal wie individuell sie auch ist. In unserer Welt ist all das,
was der menschliche Geist erschaffen hat, umsonst reproduzierbar und
verteilbar. Unsere Welt ist überall und nirgends zu Hause - auf
jeden Fall nicht da, wo die Körper leben."
Mir scheint, daß das Problem der virtuellen und paradoxen amerikanischen
Freiheit trotz allem zutiefst europäischer Herkunft ist. Treffend
formuliert Paul Virilio: Das 20. Jahrhundert hat einerseits
die echten Kolonien befreit, andererseits aber auch das letzte Kolonialreich
geschaffen: das Reich der virtuellen Realität. Und es ist kein
Zufall, daß im Mittelpunkt dieses Prozesses die Amerikaner stehen.
Denn vergessen wir nicht: Amerika ist die einzige Kolonie, die nicht
befreit wurde. So kann sie nur ihr Ebenbild erschaffen."
|