Unser Fall mit Europa
Von József A. Tillmann
Vor
tausend Jahren verwoben sich in Europa die lokalen Welten und örtlichen
Kulturen mit dem Geiste des Christentums. Dieses Geflecht brachte dem
Kontinent nicht nur eine kultische Gemeinschaft, sondern eine gemeinsame,
übernationale Ausgestaltung der Institutionen und Netzwerke von
den Klöstern bis zur lateinischsprachigen Kommunikation. Die Große
Erzählung vom heutigen Europa und seiner "Vereinigung"
handelt hingegen von etwas ganz anderem: Genaugenommen ruft nichts die
Völker des Erdteils zueinander - abgesehen vom Einheits-Chor Hollywoodscher
Glaubenswelten und politischer Rhetorik -, sie fügen sich allein
unter dem Druck der Weltwirtschaft und der technologischen Entwicklung
in den gemeinsamen Rahmen.
Trotz all
der guten Absichten, Freiheitsbestrebungen und aktiven Solidarität
bilden sich unsere Gemeinschaften keineswegs nach dem Motto "Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit", sondern primär nach der
Logik von Kapital und Technologie. Wobei das höchste Gut im Funktionieren,
im kontinuierlichen Betrieb besteht. Denn "wenn der Kapitalismus
mit weißen Mäusen funktionieren könnte", formuliert
der französische Soziologe Jean Baudrillard scharf und präzise,
"würde er ganz auf den Menschen verzichten". (In den
diesbezüglich viel weiteren und offeneren Vereinigten Staaten sprechen
Künstler und Theoretiker bereits vom Posthumanen.)
Diesmal geht
es nicht darum, dass der menschliche Wert, dem in der europäischen
Wertordnung so hohe Bedeutung beigemessen wird, die "Umwertung
aller Werte" durchgemacht hat. Vielmehr gilt, was der deutsche
Philosoph Hannes Böhringer sagt: "Die immer schnellere Zirkulation
und Transformation in Energie, Geld und Information bringt die Dinge
immer schneller zum Verschwinden" - und mit ihnen auch den Menschen.
Der reibungslose Ablauf unserer Prozesse, die ganze Länder durchziehende
Strömung führt nicht nur zu Datenübertragung und Apfelsortennormung,
sondern zieht auch die Vereinheitlichung immer größerer Lebensweltbereiche
nach sich.
Europas Vielfalt,
das Nebeneinander der verschiedenen Kulturen scheint im Gegensatz dazu
zu stehen. Indes funktioniert auch der politische und kulturelle Pluralismus
im immer gleichförmigeren globalen System quasi nur noch als Schmuckelement.
"Was bleibt dem von der Einfachheit losgerissenen und allein gelassenen
Begriff der Vielfalt, Pluralität anderes übrig", fragt
Böhringer, "als sich in dem Durcheinander und der Beliebigkeit
von bloßer Vielfalt als Supplement eine gewisse Einheitlichkeit
und Einförmigkeit zuzulegen?"
Nichtsdestotrotz
ist Europas maßgebliche Rolle im heutigen Ungarn durchaus nicht
unerheblich: Die Integration bedeutet hier keine bloße Steigerung
von Marktkonformität und Technokompatibilität. Institutionen,
Rechtspraxis und Verfahrensweisen können sich positiv auf all die
historischen Zerrbilder auswirken, können epochale Missstände
beheben. Nicht weniger unentbehrlich sind die menschlichen Qualitäten
als unmittelbares Vorbild, die sich in einem Milieu mit mehr Möglichkeiten
und weniger Einengungen freier entfalten konnten.
In Ungarns
Fall dürfte die stärkere Bindung an Europa - ganz wie vor
tausend Jahren - unerläßlich sein, um "traditionellen"
Entgleisungen vorzubeugen und mittels kreativer, neurosenfreier Gestaltung
der nationalen Identität den Herausforderungen der globalen Weltprozesse
gewachsen zu sein.
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