Was geht in unseren Köpfen vor?
Von J.A.Tillmann
Laut
neuester Erkenntnisse der Gehirnforschung vollzieht sich hinter unserer
Stirn nicht einfach nur eine Abbildung der uns umgebenden Realität,
sondern auch eine Art Nachahmung. Diese Mimese - ursprünglicher
noch als alle Künste - findet nicht nur unter Vermittlung unserer
Augen statt, sondern geht - wie Experimente mit Tieren inzwischen
bewiesen haben - auch gemeinsam mit einer inneren motorischen Aktivität
einher. Die Wahrnehmung beschränkt sich also nicht nur auf ein
bloßes Ereknnen des Gesichtsfeldes. Was wir sehen erleben wir
als etwas eigenes, durch uns erlebtes. Was uns umgibt, geschieht auf
irgendeine Weise mit uns...
Rund um die Frage eines möglichen Kraftwerkes an der Donau geschieht
gegenwärtig Dramatisches bei uns. Abgesehen von der uneinsehbaren
Tragweite des Projektes selber ergibt sich die Dramatik der Situation
vor allem durch die eigenartige Behandlung dieses Themas durch die
Regierung. Am aktivsten sind dabei die ungarischen Sozialisten. In
ihren Äußerungen erkennt man eine ganze Bandbreite von
in der Vergangenheit erworbenen Routinen und Reflexen sowie eine eigenständige
mentale Tradition. Deutlich wird aber auch die Dünne des auf
ihr lagernden demokratischen Anstrichs. Darüber hinaus werden
durch die Herangehensweise der Sozilisten viele Fragen aufgeworfen,
die nicht so leicht zu entscheiden sind. Ist die fixe Idee des Staudamms
der Mythos einer verspäteten Modernisierung? Ist der Virus der
Glaubenswelt des Charkow-Umfeldes noch aktiv? Steht hinter der ganzen
Frage der auf Wiederherstellung des alten Zustandes abzielende Krampf
der Revanche? Geht es nicht vielleicht sogar darum, daß nach
der großen Welle der Privatisierung dafür gesorgt werden
soll, das Staatseigentum wieder zu mehren?
Wenn auch nur die Hälfte der gegen das Staudammprojekt vorgebrachten
Argumente wahr wäre, so müßte man sich bereits heute
eindeutig von dem Projekt verabschieden. "Den Folgen eines natürlichen
Prozesses rechtzeitig und offen entgegenzusehen, bewirkt langfristig
Einfachheit" - stellte der Computerentwickler Ted Nelson im Zusammenhang
mit der Behandlung von Komplexitäten und Komplikationen fest.
Seine Äußerung kann ohne weiteres auf unser Exempel übertragen
werden. Die jetzt einfach erscheinende Entscheidung über den
Bau des Staudamms geht langfristig mit unabsehbaren Folgen einher.
Schon jetzt sind einige negative Folgen offensichtlich. Nicht nur
unter den Naturschützern gilt es als eine unbestrittene Tatsache,
daß in der Zukunft der Wert sauberen Trinkwasser ständig
weiter zunimmt. Sein Preis wird über den anderer Naturschätze
steigen. Daher stellt eine Gefährdung der danubischen Süßwasserquellen
nicht nur eine Gefährdung von Morgen dar, sondern geht schon
heute mit schädlichen Auswirkungen einher. Freilich lassen sich
Staudammbefürworter nicht so leicht durch vernünftige Argumente
von ihrem Vorhaben abbringen. Dies wird durch nichts besser illustriert
als durch das gigantische Kraftwerksprojekt in China, wo man sich
im Vorfeld nicht nur für die zukünftigen negativen Folgen
des Projektes verschlossen hatte, sondern bereits sofort die Vertreibung
von rund einer Million Menschen einkalkulierte.
Die Konfrontation mit den natürlichen Folgen eines Prozesses
verlangt von den fürs Gemeinwohl tätigen Politikern, jenseits
aller Protokolle und allen Parteiengeplänkels, die Berücksichtigung
der Zukunft. Es scheint, als wäre die gegenwärtige ungarische
Regierung noch weit von diesem Idealzustand entfernt. (Es läßt
sich freilich darüber streiten, wie weit man vom Kap Horn überhaupt
nach vorne blicken kann. Bis zu den kommenden Wahlen? Oder noch zwei
Wochen weiter? Und danach? Wie weit? Wohin?) Die Kurzfristigkeit ihrer
Gedanken und die Beschränktheit ihrer Taten zeigt sich nicht
nur in der Frage des Donaukraftwerkes. Auch die Veräußerung
von einigen grundlegenden Kraftwerken ist in diesem Zusammenhang zu
sehen. Mit dem Wasser der Donau geht es jetzt an die Existenzgrundlagen.
Setzt sich der Trend fort, werden bald wohl auch Konzessionen über
die Luft vergeben. Die Kraftwerksanhänger in der Regierung verkünden
ständig ihre Wahrheit ohne sich mit der Existenz und den Argumenten
der Opponenten des Plans auseinandergesetzt zu haben. Es scheint,
als hätten auch die öffentlich-rechtlichen Medien den ins
Abstellgleis führenden Kurs der sozialistischen Geisterbahn eingeschlagen.
In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß an ihrer Spitze
heute noch oftmals die gleichen Personen stehen, die noch vor gut
zehn Jahren den Grundsätzen der volksdemokratischen Informationspolitik
huldigten.
Die Gehirnforschung wartet in Hinsicht auf die gesamte Problematik
mit einer beachtenswerte Lehre auf. Das Gleichgewicht des menschlichen
Denkens beruht auf dem Zusammenspiel zwischen der linken und rechten
Gehirnhälfte. Abwechselnd dominieren beide Gehirnhälften.
Sie ergänzen und korrigieren sich einander. Damit verhindern
sie zugleich, daß eine von ihnen in ein länger andauerndes
Übergewicht gerät. Die demokratische Wechselwirtschaft funktioniert
ähnlich. Die Bedeutung des Augenblicks der Veränderung ist
dabei heute sogar noch größer, da "Links" und
"Rechts" ihres Inhaltes entledigt haben. Die Rechte konserviert
heute ebensowenig, wie die Linke. Ein Wandel ist schon allein deshalb
unumgänglich, um die bisher regierenden wieder in die Lage zu
versetzen, anders zu sehen; vielleicht sogar ein wenig weiter als
bisher...