Laurie Anderson in Budapest

Der Amerikaner von heute verehre keine Klapperschlangen mehr, schrieb der große Bild- und Phantasie-Kartograph Aby Warburg Anfang des Jahrhunderts, denn die Zivilisation der gefesselten Elektrizität, des gefangenen Blitzes demoliere den Zufluchtsort der Andacht, die zur Betrachtung notwendige DISTANZ. Diese Behauptung wurde jetzt bei Laurie Andersons Budapester Auftritt vital widerlegt. Nicht daß die "heidnische Dichtung" des Schlangenkults wiederaufgelebt wäre. Aber Abstand und Blickfeld wurden anders heraufbeschworen: aus der Perspektive eines sich entfernenden Reisenden, veranschaulicht durch das Triptychon eines beweglichen (gliederbaren, wegschiebbaren, entfernbaren) Videoprojektionssytems. Auch sonst mangelte es der Performance nicht an sakraler Färbung: Das Dramenspektrum reichte von sinnierenden und meditativen Schattierungen bis zu extatischen Ausbrüchen glühender Gefühle. Allmählich brachte die Dynamik dann die lauschend versammelten Schwingkörper in Bewegung. Dennoch war dies keine Privatkultfeier. Die Persönlichkeit, die wir erlebten, drängte sich nicht etwa in den Vordergrund, sondern zog sich in den Hintergrund zurück. Abgesehen davon, daß die Künstlerin Klänge ertönen ließ beziehungsweise formte, beschränkte sich ihre Anwesenheit sozusagen darauf, persönliche Akzente zu setzen, räumliche Relationen zu markieren. (Sich selbst zu repräsentieren, garniert und toupiert darzustellen, unterließ sie, nur eine versteckte Optik in Mikrophon und Streichbogen durfte sie mediatisiert vergegenwärtigen.) Nichtsdestotrotz zeigte sie auf diese Weise einen beispiellosen Fall von intensiver persönlicher Integration. Die bis zur Weißglut gesteigerte Vermengung von Verstreutem und Zerfallenem. Und deren Entflammung. Sie demonstrierte ein Wechselbad kalter und heißer Extreme. Eine Wanderung zwischen pathetischen und rationalen Extremen. Ständigen Wandel auf einer Skala von Magna-Mater-Gemurmel bis Macho-Maskulin-Klangmaske.
Zelebriert wurde steile hohe Kunst, die Rückgratsaiten unter Schauern erbeben ließ. Und doch war der gehobene Flugpegel mit elementarer Schlichtheit gepaart. Neben den üppigen Variationen des zumeist von früher bekannten Musikmaterials basierte die Performance auch auf dem Filmbild, dem spätneuzeitlichen Tempel, dessen kalkulierten Zauber es zu berücksichtigen gilt. Das Filmbild schafft und verkleistert die Gemeinplätze und die Ideen. Es bedeutet den Bezugshintergrund, vermittelt auf seinem Netzwerk die virtuelle Weltenzeit. Dennoch kehrt Anderson ihm den Rücken; sie spielt mit ihm, obzwar sie ihn ernst nimmt: Immer wieder bricht sie seinen Zauber. Wie auch den Zauber, der ihr selbst entströmt. Damit er nicht zufällig mit den anderen verschwimmt. Schon zu Beginn tritt sie ironisch aus dem Bild hervor; macht aufmerksam auf den feinen Unterschied zwischen der wirklichen und der reflektierten Zeit: This is the time. (Und kurz darauf:) This is the record. Sie spricht dagegen, sich etwas vortäuschen zu lassen. Dinge zu verquicken und ineinandergleiten zu lassen. Während sie selbst ebenfalls zum Instumentarium der Begeisterung greift, sich schichtenbedingter Verzückung bedient. Wenn auch ein wenig anders als sonst üblich. Auf ihrem Triptychon rieseln Bildwasserfälle, kräuseln sich Vorhänge bunter Bildwürfel. Zwischen die Nichtbilder geraten manchmal Bildausschnitte, invers gefärbte Verzerrungen, Tapetenmuster, Stilleben und Bildstillen wiederholter Mobilität. Hinter, vor & neben denen durchweg das Mysterium der Zeit präsent ist. In dem natürlich Episoden ihres eigenen Lebens mit geschichtsphilosophischen Aspekten harmonieren. Schon, weil "meine Großmutter immer vom Ende der Welt sprach"..., sie aber eher die Dinge vor dem Hintergrund des Ende betrachtete. In dessen mal beschauliches, mal leidenschaftliches Kolorit sich starke Dämmertöne mischten. Bei der Abendinventur erschienen fast all die flüchtigen Requisiten und Darsteller unserer Tage. (Unablässig schwätzende Münder. Kalte Fischaugenoptiken, Satellitenpupillen. Flugabwehr-Schweinwerfer. Endlose Textspulen. Das Getriebe von Drehtüren und Flughäfen. Ein unendlicher Schienenstrang. Stacheldrahtrollen. Der aktuelle Stand der Computer-Bildwelt. Die Veränderlichkeit der Schnittstellen. Indikationstöne; Stimmenmodi des Telekommunikationstiers. Versuche, die seelenlose Seele der Maschine bildlich festzuhalten und ihre Stimme hörbar zu machen. Stadtsilhouetten. Regentropfen am Fensterglas. Metronome, Uhren, Zeiten.)
Details in Folge; geschichtete Bildausschnitte, Ton- und Textfragmente, die sich trotzdem zum Ganzen, zu einer bruchfreien Vollständigkeit fügen. Immer wieder flackert in Andersons projiziertem Bilderbuch das unwahrscheinliche Fasergefüge der Schönheit: mal steigt ein Wecker als (Kunst)Mond/Sonne am Horizont auf, mal schweben Kissenikonen auf dem Triptychon. Begleitet von dem Gasttext einer Kinderstimme (aus der Performance "United States"): "Ich habe geträumt, ich bin ein Hund in einer Talkshow..." Und dem Geigenbogen entströmt die Endzeitversion eines Walzerthemas.
Bisweilen unterbrach ein Anderson-Märchen, eine erzählte Geschichte den Melodienfluß: Impressionsblitze einer Weltreise, von Mexiko über den Nordpol bis Tibet, von der Wirklichkeit ins Unwahrscheinliche, und manchmal noch weiter. Unterscheidet sich doch die Wissenschaft der gefundenen Fakten kaum von der Wissenschaft der erfundenen Fakten. Beides ist Big Science.
Sie sprach über Botschafter, Indianer, Soldaten. Über John Cage und einen Bergsteiger, der ihr das Leben rettete, über weit voneinander entfernte Schauplätze und die Todesgrenze; über ihren dortigen Besuch. "Ich erzähle euch das, weil ihr vielleicht nicht wißt, wie es ist, durch die Stimme eines anderen gerettet zu werden. Das ist mir passiert, und ich glaube, davon muß ich euch berichten", sagte sie am Ende ihrer Geschichten, in entzückendem Ungarisch.

1995.

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