Der Tag der Avataren.
Eine Zukunftsvision
Von J. A. Tillmann
Die Vereinigung
aller technischen Medien hatte überraschende Folgen. Da die Geräte
nicht mehr separat arbeiteten, war die Bedienung nicht mehr ortsgebunden,
und man konnte Schnittstellen wie Bildschirme beliebig placieren.
Manche Benutzer begnügten sich mit der Tischplatte, anderen reichten
kaum die vier Wände, ja nicht einmal die Zimmerdecke, und sie
holten sich vom orbitalen Beobachter den rosafarbenen Schwemmsand
einer mediterranen Insel als ständiges Bild auf den sensibilisierten
Fußboden. (Daraus ergaben sich Komplikationen: Mitunter sorgten
vorüberziehende Krebse für Panik, ein andermal entstand
ein Rotglühen, weil die Farbkorrektion wegen aufziehender Wolken
verrückt spielte...)
Der Interface-Komfort führte, vor allem bei älteren Menschen,
zu wachsender Isolation und teilweise schweren psychischen Störungen.
Viele vermochten die Einsamkeit nur zu ertragen, wenn sie sich beständig
mit lebendigen Bildern umgaben. Nach den überholten Familienfotoalben
war es nun jedermann möglich, längst verstorbene Ahnen oder
entschwundene Geliebte in synthetische Bewegungsbilder zu verwandeln.
Kultfilmfans durften dank Raumkorrektor für immer in der Gesellschaft
ihres Schwarms verharren. Und das Realitätsgefühl ging weiten
Kreisen verloren, weil sie die Seifenopern nicht mehr nur von außen
betrachten, sondern schnell mal in diese oder jene Seifenblase hineinschlüpfen
konnten.
Positiv wirkte sich aus, daß jeder infolge der Vereinigung sein
eigenes Interface gestalten mußte, wenn er der Einheitssoße
entgehen wollte. Man mußte schon gründlich überlegen,
um zu entscheiden, was mit dem Bemutzer zu tun hat; was ihn wirklich
betrifft und was es fernzuhalten gilt. Nicht nur die Handhabung, auch
die proportionale Representation warf heikle Fragen auf. (Mitunter
hatte die Konfrontation mit dem Zerrinnen des eigenen Lebens traumatische
Wirkungen.)
Der persönliche Charakter der Interfaces ergab sich - abgesehen
von ihrer Konfiguration - dadurch, daß sie (bei akustischer
Steuerung) nur auf die Stimme ihres Besitzers hörten beziehungsweise
(bei manueller Bedienung) nur durch Handauflegen erreichbar waren.
Die wahre Revolution der Interfaces begann hingegen erst, als die
Avataren in Erscheinung traten. Sie manifestierten sich im Geist des
Interface, und zwar in einem (mit dem FIGURA-Programm beliebig formbaren
oder aus Bildnissen der Personen-Datei synthetisierbaren) Scheinkörper.
Im Avatar vereinigten sich die besten Eigenschaften einer begnadeten
Sekretärin, eines Schutzengels und eines intelligenten Agenten.
Er war unschlagbar, wenn es darum ging, eingehende Informationen zu
filtrieren, Daten zu erschließen und zu betreuen. (Komprimiert,
für die Filter der Dienstleister unbemerkbar, waren seine hochentwickelten
Formen sogar in der Lage, schwindelerregende Datenberge zu durchforsten.
So bewahrte er seine Herrschaften vor einer Abstumpfung durch die
sogenannten Informationen sowie vor unnötigen Ausgaben.) Seine
evolutive Programmierung ermöglichte ihm nicht nur, etliche Dienstleistungen
zu erbringen, sondern auch, dem Entwicklungsstand seiner Herrschaften
kontinuierlich zu folgen. Nach einer kurzen Lernphase beherrschte
er sogar deren Auswahlaspekte, mehr noch, er extrapolierte deren etwaige
Evolution. Diese Gabe basierte auf der stetigen Analyse von Häufigkeit
und Zusammensetzung der Mustern bei den abgerufenen Bildern, den Wörtern
und Tönen. (Die anfängliche, auf Wörter beschränkte
Selektion - samt der als Grundlage dienenden analytischen Sprachauffassung
- mußte man nach einer Unmenge von Mißerfolgen aufgeben,
um nach komplexeren Kennzeichen zu suchen.
Da der Avatar nicht allein der Bildarchitektur und ihrer Entstehung,
der Fortbildung von Schlüsselwörtern und logischen Strukturen,
sondern auch der Harmonie der aufgefangenen Töne und der Entwicklung
ihrer Rhythmusformeln folgte, war er obendrein imstande, die Evolution
der Gedankenformen effektiv zu fördern. Alsbald erlangte er die
Fähigkeit, Mustern selbst wahrzunehmen, was die Effizienz des
Suchens vervielfachte Wobei er die Befehle ausführte, konnte
er stets eine Auswahl von Ansichten, Wortgeflechten und Tongebilden
präsentieren. Abgesehen von den günstigen Ausgangsbedingungen
bildete sein Angebot die nächste Sprosse der in unerschöpfliche
Tiefen führenden Trittleiter der Erkenntnis. (Bei ungünstiger
Konstellation und falscher Kalibration boten sie natürlich auch
der nachteiligen Regression rasante Hilfe...)
Der Avatar wurde auch bei der Kontaktpflege unentbehrlich: Da er seine
Wahrnehmungen regelmäßig mit befreundeten Avataren abstimmte,
konnte er sich im Falle zu häufiger Übereinstimmungen oder
bedenklicher Abweichungen zu Wort melden und Vorschläge für
persönliche Begegnungen unterbreiten. (Dies verhinderte übrigens,
daß die Herrschaften infolge unstimmiger Orientierung kommunikationsunfähig
wurden und daß ihre breiteste Gesellschaft in ein beziehungsloses
Gespinst zahlloser Subkulturen zerriß.)
Gleichwohl kam es zeitgleich mit der allgemeinen Verbreitung der Avataren
auch zu gefährlichen Erscheinungen und sogar zu schweren Unfällen.
Als unübertrefflich effiziente und flinke Diener wußten
sie sich unentbehrlich zu machen und wurden so unwillkürlich
Herr über ihre Herrschaften, die nicht selten den kürzeren
zogen: Ohne Mitwirkung des eigenen Avatars vermochte manch einer nicht
einmal Grundtätigkeiten durchzuführen, und ein paar Tage
nach dem Absturz des Systems verhungerte er glattweg. Auch das avatarenbedingte
Lethargiesyndrom forderte scharenweise Opfer: Die raumfüllenden,
mit dem Realen rivalisierenden Bilder machten direkte Nähe für
viele entbehrlich, so daß sie sich nicht nur das Reisen abgewöhnten,
sondern mit der Zeit sogar ihre Gehfähigkeit einbüßten.
Weniger unmittelbar selbstgefährlich war der mentale Wandel bei
Individuen mit einem Hang zu Machtmanie: Das Wirken der Avataren hatte
ihren Verstand mit dem Gefühl der Allmacht und dem Irrglaube
der Allwissenheit gefüllt. Allerdings hätte dies auch ohne
deren Zutun passieren können - wie etliche Beispiele aus der
präavatarischen Zeit belegen.