Zweite Zeitgenössische Ungarische
Epigonen-Ausstellung
KX. Kunst auf Kampnagel, Hamburg
7.12.1993 - 9.1.1994
Monika Wucher:
Das Epiphänomen
Ganz gleich, ob Epigonalität heute eine Abwertung oder einen Wert bezeichnet, in jedem Fall geht es um die Thematisierung von Abhängigkeiten.
Epigonentum ist das im herkömmlichen Sprachgebrauch am stärksten negativ besetzte Verfahren innerhalb der verschiedenen Varianten bewußt rezipierender Kunsttendenzen. Die Mimesis, das Aufgreifen von Vorbildern, das Zitieren, das Entlehnen sind gänzlich akzeptierte und geschätzte Methoden der Kunstproduktion. Ihre Spuren werden vom Betrachter und Interpreten geradezu aufgesucht, verfolgt, registriert. Als systematisierte Verweise finden sie sich auf den prominentesten Wegen zur Kunst.
Imitation, Kopie und Plagiat sind aufgrund ihrer Annäherung an Perfektion und dem vordergründigen Zusammenhang mit Fälschungen, Wirtschaftskriminalität und Eigentumsdelikten skandalumwittert - für die moralischen und juristischen Fragen aber, die sie von Fall zu Fall aufwerfen, gibt es gesellschaftliche Regelungen.
Technische Reproduktion und Simulation übernehmen es, je nach Entwicklungsstand von neuem die gegenwärtige Wirklichkeitsauffassung und Manipulierbarkeit gleichzeitig zu formen und zu reflektieren.
Außer seiner extremen Platzierung auf der Skala der Kunstrezeption unterscheidet sich das Epigonentum in einigen weiteren Punkten wesentlich von den erwähnten integrierten und institutionalisierten Ansätzen. Es macht sich nicht unbedingt an Einzelbildern, Einzelmotiven, einzelnen Künstlern fest. Dadurch vergrößert sich die Entfernung zum Begriff des "Genius", dessen gedanklicher Rahmen den Konzepten künstlerischer Bezugnahme kontrastierend gegenüber steht. Epigonen treten meist als unbekannte, undifferenzierbare Vielzahl auf. Ihre Fähigkeit ist es aber, den fluktuierenden Austausch von Inhalten aktiv in Bezüglichkeiten auszubilden. In ihrer Macht steht es, aufzugreifen und fortzusetzen oder zu vernachlässigen. Die Übernahmen konstruieren mit der Zeit das Zentrum, der Rest ist Peripherie. Wegen dieses weitgehend anonymen Prozesses werden vom Publikum ganze kulturelle Gruppierungen mit dem Epigonen-Titel belegt.
In dieser Ausstellung fungiert Epigonalität als selbstgewählte Bezeichnung. Möglich, daß Übernahmen und Anleihen doch nicht beliebig getätigt werden können oder wollen, trotz aller heute behaupteten Verfügbarkeit und Verbreitung potentieller Vorlagen. Es gibt offensichtliche Einschränkungen, die sich an den Grenzen von Durchsetzungsstrategien festmachen. Das Entleihen verlangt selektive Entscheidungen und ebenso ein präsentes Bewußtsein dafür, daß durch Anbindungen und Verknüpfungen Vorgefundenes tendenziös verstärkt wird.
Die Entstehungsgeschichte und Durchführung der Epigonen-Ausstellung
kann dafür als Beispiel dienen.
In diesem Prozeß von gegenseitigen Einflußnahmen und gemeinsamer Beteiligung
wird das Aufnehmen von Gegebenheiten am Ausstellungsort zum Material. Dadurch
zeigt sich die Struktur des Konzepts offen, aber nicht beliebig.
Zu sehen sind Begleiterscheinungen, die das Zustandekommen dieser Ausstellung
ausmachen und gleichzeitig ein Teil davon sind. Begleiterscheinungen wie
das Licht einer Straßenlaterne, das, in den Innenraum versetzt, nun auch
außerhalb der Öffnungszeiten die Ausstellung erhellt.
In einem Prozeß von gegenseitigen Einflußnahme und
gemeinsamer Beteiligung war das Aufnehmen von
1) Die Kräfte im Hintergrund
2) Reproduktionen dienen der Verbreitung
3) Epigonen sind informiert, haben Kontakte und inhaltliche Verbindungen
4) Epigonen-Netzwerk / Kommunikationsstrukturen
5) Reproduktion und Dokumentation
6) Wiederholung und Reflexion
7) Kontext und künstlerische Einbettung
8) Frage nach den eigenen Parametern, Kriterien, Voraussetzungen
9) kulturelle Einstellungen und Werte
10) Information und Aufarbeitung
11) Referenz und Hommage
12) Rezeption
13) Rekonstruktion als Spurensuche
14) konstruktive Mißverständnisse
15) Aneignung
16) Überlieferung, Geschichte, Vermittlung
*
Mechthild Haas
Epigonale
Außer Frage steht, daß die Geschichte der Kunst sich dem Künstler als Fundus darbietet. Wenn in den gezeigten Arbeiten der gemeinhin abwertend gebrauchte Begriff der epigonalen Nachfolge zum Programm gemacht wird, verweist dies auf einen Wandel im künstlerischen Traditionsverständnis. Die Künstler fühlen sich von der kunstinternen Diskussion um die Postmoderne herausgefordert und versuchen gerade gegen die viel zitierte "Beliebigkeit" neue Verfahrensweisen zu benennen. Die vorgestellten Kunstwerke zeigen zahlreiche Eingriffe in die Kunstgeschichte, insbesondere der Gegenwart. Weil die Idee einer Linearität oder der vermeintlich chronologisch-logischen Abfolge von Tendenzen und Strömungen (etwa die Trias: Aufstieg-Blüte-Verfall) hinfällig geworden ist, kann es eine genormte Tradition nicht mehr geben. So geht es den Künstlern nicht mehr darum, wie bei der klassischen Fortführung von historischem Erbe, einst Angefangenes weiterzuentwickeln, Vorgeschrittenes nachzuschreiten. Dabei standen immer die "Großen" der Kunstgeschichte im Zentrum des Interesses. Ziel ist nicht, die Werke einzuordnen, die (Kunst)geschichte zu systematisieren und die eigene Position in Reflexion auf die vorbildlichen Künstler-Genies zu bestimmen.
Die Lektüre des Vorhandenen findet auf mehreren Ebenen statt, wobei für den Betrachter nicht systematisch zu erklären ist, wann-wie-wo Rückgriffe oder Aufgriffe stattfinden. Diese "Unberechenbarkeit" der jeweiligen künstlerischen Herangehensweise wird zu einer programmatischen Haltung. Die Künstler bestimmen selbst wie sie Elemente alter Epochen mit modernen Praktiken vermischen, wie sie Konglomerate aus Traditionspartikeln basteln. Die Künstler versuchen mit ihren Arbeiten, die Historie bewegbar zu machen. Der eigene Standort bestimmt den Umgang mit Geschichte. Kein industrieller Sammler oder staatlicher Auftraggeber gibt Vorgaben, sondern die Künstler bestimmen aus ihrer eigenen gesellschaftlichen Verantwortlichkeit heraus ihren Umgang mit dem historisch-kulturellen Erbe.
Durch die Epigonen-Ausstellung erteilen die Künstler dem Postulat, Neues zu schaffen, eine klare Absage. Gerade für ungarische Künstler, denen häufig als Spiegel ihre Vorläufer aus der Avantgarde der 20er Jahre vorgehalten werden, ist dieses bewußte Epigonentum eine grundsätzliche Entscheidung. Und zugleich ist es der Versuch, sich der so oft benannten Krise der Moderne entgegenzustellen und sie engagiert aufzugreifen. Die Künstler lehnen es ab, originär, ja avantgardistisch sein zu müssen. Das wurde als Zwangskonstruktion erkannt. Sich als Nachfolger zu verstehen wird hier zur Möglichkeit, über den Arbeitsprozeß in der Kunst nachzudenken. Dabei geht es nicht um das Ausplündern des kunstgeschichtlichen Repertoirs. Für Künstler wie Betrachter ist das Interessante nicht der bloße Rückbezug auf das jeweilige Vorbild; es geht nicht darum, das Zitierte zu erkennen. Damit würde die Kunsterfahrung zu einem bildungsbürgerlichen Rätselspiel. Es geht um eine Kunstrezeption, die die Werke kritisch entfaltet und lebendig macht.
Daß es das alte Neue überhaupt jemals gegeben hat, ist zweifelhaft. Es gibt keine Neuschöpfung ab ovo. Auch die revolutionärste Neuerung bezieht sich zurück auf Denk- und Sehgewohnheiten, die sich ausgeprägt haben. Ständig muß sich die Reflexion damit auseinandersetzen. Je bewußter und komplexer sich diese Auseinandersetzung vollzieht, desto reicher an formalen Gehalten oder an inhaltlichen Beziehungen wird das Kunstwerk. In diesem Sinn hat Ernst Bloch die Kategorien Novum und Erbe als bestimmend für den Geschichtsprozeß herausgearbeitet. Das Novum ist das Ergebnis des schöpferischen Umgangs mit dem Erbe. Die Kunst setzt sich unablässig vom überlieferten Gewohnten ab und bezieht es dennoch ohne Unterlaß ins Werk ein. In der Traditionshaltigkeit der künstlerischen Arbeiten manifestiert sich das Faktum der Historizität unseres Daseins. Selbst Traditionsbruch geschieht immer relativ zu Tradition. Auch wenn Tradition verleugnet wird, gelingt es nie, sich ihrer ganz zu entledigen.
Für die Künstler der Epigonen-Ausstellung ist Tradition alles andere als eine konservative Kategorie. Der bewußte Umgang mit dem Kontingent historisch-kulturellen Erbes wie Geschichte, Kunst, Mythos, Religion verbürgt die Gegenwartsbezogenheit. Dies ist Widerstand gegen den konventionell-konformen Bezug auf Vorangegangenes, die Huldigung an das Vorbild des Meisters sowie gegen das Zwangsdiktat der Avantgarden, etwas noch nie Dagewesenes zu schaffen. Das Ergebnis ist nicht beliebig, sondern bewußt; es ist der unberechenbare Seitensprung ins Neue.
*
Christian Vogel:
Nachgeborene Zeitgenossen
Beginnen wir, wie es schon immer gemacht wurde: mit einem Rückblick. Wenn jetzt die Zeitgenössische Epigonen-Ausstellung in Hamburg stattfindet, hat der Begriff, so wie er heute allgemein verstanden wird, eine gut 150jährige Geschichte. Karl Leberecht Immermann veröffentlichte 1836 sein Hauptwerk "Die Epigonen". In dem Roman werden die Memoiren zweier Familien und der abenteuerliche Lebensweg des Helden Hermann mit einer Kulturkritik verbunden, die den Höhepunkt der künstlerischen Entwicklung in der jüngsten Vergangenheit ansiedelt und daher jede Weiterentwicklung als unmöglich begreift. Immermann, und mehr noch dem Zwang zur Originalität, auf den er reagiert, haben wir es zu verdanken, daß ein Epigone seither als besonders verabscheuenswürdiges Mitglied der menschlichen Gesellschaft gebrandmarkt ist. Die Moderne hat mit ihrem emphatischen Fortschrittsbegriff wenig Sympathie für Zeitgenossen, die nicht an ihrem "Projekt" mitarbeiten. "Unschöpferische Nachahmer" werden sie gescholten.
Dabei war der Begriff in der Antike durchaus nicht negativ besetzt. Epigonoi, das waren die Nach-Geborenen im Sinne von Nachfahren, die manchmal auch vollenden konnten, was den Vätern noch versagt blieb: Im berühmten Kampf der "Sieben gegen Theben", dem Höhepunkt des thebanischen Sagenkomplexes, gelang es dem von Adrastos angeführten Heereszug der sieben Stammesfürsten nicht, dem um seinen Thron betrogenen Sohn des Ödipus, Polyneikes, wieder zur Macht zu verhelfen. Erst zehn Jahre später war es ihren Epigonoi, ihren Söhnen, vergönnt, Theben zu erobern.
Den Beinamen "Epigonos" gaben sich auch einige griechische Künstler, ohne daß dies ihrem Ansehen geschadet hätte; es war ein Beiname wie der auch heute noch gebräuchliche "junior". Den Bildhauer Epigonos aus dem 3.Jh. v. Chr. hält man gar für den Schöpfer der (heute nur noch in römischer Kopie erhaltenen) berühmten "Galliergruppen".
Das Bewußtsein, auf den Schultern seiner riesigen Vorväter zu stehen
und erst deshalb in die Ferne blicken zu können, ist der modernen Auffassung
gewichen, man müsse seine Väter morden, um künstlerisch wirklich frei zu
sein. Dies hat seit dem 19.Jh. zu einem sich immer stärker beschleunigenden
Prozeß der Abnabelung (was zeigt, daß nicht nur die "Väter" betroffen waren)
von den Vorgaben sämtlicher möglicher Konventionen geführt. Aufgabe der
Kunst war es, Denkmodelle unserer Weltvorstellung zum Einsturz zu bringen,
immer einen Schritt voraus zu sein.
Die ständige Selbstüberholung der Avantgarde führte zu einer Überforderung,
die nicht nur das vorzeitige Ende einzelner hoffnungsvoller Begabungen
durch Magengeschwüre, Hypertonie und Herzinfarkte auf dem Gewissen hat,
sondern als ökonomisches Wachstums-Dogma unsere gesamte Welt bedrohlich
nahe an den Rand des ökologischen Kollapses gebracht hat.
Immermann litt darunter, daß die Generation nach Goethe (und Beethoven und Newton und ...) offenbar zum Epigonentum verdammt war. Im Roman läßt er seinen Helden Hermann an den Widersprüchen seiner Zeit: maroder Feudalismus einerseits und die schädlichen Auswirkungen der Industrialisierung andererseits, reifen und stellt dem Leser ein individuelles Happy End in Aussicht:
"Mit Sturmesschnelligkeit eilt die Gegenwart einem trockenen Mechanismus zu; wir können ihren Lauf nicht hemmen, sind aber nicht zu schelten, wenn wir für uns und die unsrigen ein grünes Plätzchen abzäunen und diese Insel so lange wie möglich gegen den Sturz der vorbeirauschenden industriellen Wogen befestigen."Für uns Heutige ist es aber mangels "grüner Plätzchen" nicht mehr möglich, wie Immermann den Eskapismus als Lösung anzubieten. Umkehrbar ist der Prozeß schon gar nicht, aber er kann vielleicht doch verlangsamt werden - und sei es nur, um Zeit zu gewinnen.